… von Ingrid Neuschwander
Aufgezeichnet im März 2016
Martha Wachtendorf war meine Großmutter mütterlicherseits. Sie war für mich eine wichtige Bezugsperson, weil ich im Alter von etwa zwölf Monaten bis zehn Jahren mit meiner Mutter bei ihr gelebt habe. Da meine Mutter anfangs stundenweise in der Nachbarschaft und später ganztags in Hude gearbeitet hat, verbrachten meine Oma und ich einen großen Teil der Zeit miteinander.
Woran erinnere ich mich, wenn ich an meine frühe Kindheit bei meiner Oma denke? Auf jeden Fall an ihren großen Garten und wie wir zusammen Johannisbeeren gepflückt haben. Schwarze Johannisbeeren nannte sie immer „Kakelbeeren“, die dann zu Gelee und Saft verarbeitet wurden. Später bekam ich von ihr einen kleinen Teil des Gartens abgeteilt, den ich von da an selber bewirtschaften durfte.
Eines Abends haben wir in diesem Garten nach einer Sternschnuppe gesucht. Wir hatten ganz genau gesehen, dass sie in unseren Garten gefallen war. Sie musste einfach dort gelandet sein. Es war für mich als Kind abenteuerlich. Wer dabei wen angestiftet hat, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass die Suche erfolglos verlaufen ist.
Ich erinnere mich auch noch sehr gut daran, dass ich mich Ostern beim Suchen der Ostereier außerordentlich darüber gewundert habe, dass der Osterhase genau die gleiche Handschrift wie meine Oma hatte. Oma hatte auf viele Fragen eine Antwort parat, hier musste sie jedoch passen. Mit „Frohe Ostern“ oder ähnlich beschriftete Ostereier gab es jedenfalls nicht wieder, soweit ich mich erinnern kann.
Wenn Verwandte oder Nachbarn zu Besuch kamen, rief Oma vom Flur aus immer durch die geschlossene Tür „hinten umzu“. Das sollte heißen, dass die Tür zur Diele offen ist. Offiziellen Besuchern dagegen hat sie immer vorn aufgeschlossen. Selbst heute habe ich noch diese Worte in ihrem typischen Tonfall im Ohr, wenn ich meinem Vetter Egon und seiner Familie, die das Haus jetzt bewohnt, einen Besuch abstatte.
Eingekauft hat Oma meist in einem mobilen Einkaufsladen, der regelmäßig vorgefahren kam. Dort stieg sie die Stufen zum Verkaufsraum hinauf und orderte, was sie brauchte. Das war für mich als Kind ziemlich reizvoll. Manchmal gab es dann ja eine kleine Leckerei.
Auch als meine Mutter wieder geheiratet hat und wir 1968 nach Hatterwüsting gezogen sind, blieb der regelmäßige Kontakt bestehen. So fuhren wir zum Beispiel zusammen zwei Mal für einige Tage nach Voslapp zu Verwandten. Beim ersten Mal stoppte sie für mich des Öfteren die Zeit, die ich in der Nordsee schwamm, so dass ich anschließend meinen Freischwimmer in Hude machen konnte. Beim zweiten Mal nahm ich eine Freundin mit und wir beiden Teenager hatten viel Spaß mit meiner Oma auf unserem Kurzurlaub. Was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte, wie Oma uns damals versicherte.
Ich habe meine Oma als sehr agile und selbstbewusste Frau in Erinnerung, die wusste, was sie wollte. Sie liebte die Wärme im Sommer und im Winter saß sie gerne in ihrem Sessel neben dem Ofen im Wohnzimmer. Auch gehörte Lesen zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, und wenn sich eine Möglichkeit bot, eine Urlaubsreise zu machen, war sie immer gerne dabei. Auch hat sie sich in der Kirchengemeinde engagiert, indem sie viele Jahre lang mit dem Rad das Mitteilungsblatt „Die Glocke“ an die Nachbarn im Dorf verteilt hat.
Ein Besuch bei ihr – vor allem mit Übernachtung – war immer ein Ereignis. Wir haben es uns extrem gemütlich gemacht, einen schönen Film geguckt und Süßigkeiten genascht. Dann wurde es auch leicht spät – früh aufstehen war Omas Sache nicht. Im Winter hat sie dann zuerst den Ofen angefeuert, und der Tag konnte beginnen. Eine Zentralheizung gab es in jenen Jahren nicht.
Etwas ganz Besonderes war unsere Fahrt nach Woerden in Holland. Da Oma dort in jungen Jahren fünf Jahre lang gearbeitet hatte und sie des Öfteren mal erwähnte, dass sie gerne noch einmal dorthin fahren würde, unternahmen mein Mann Bernd und ich mit ihr und Omas Schwägerin Herta Rüscher eine Fahrt in die Vergangenheit. Wir haben vorher zusammen alte Fotos und Adressen herausgesucht und tatsächlich vieles davon auch in Holland wiedergefunden. Das Haus, in dem sie gearbeitet hat, war zwar verändert, aber trotzdem wiederzuerkennen. Selbst der Bahnhof und ein weiterer Straßenzug waren anhand der Fotos ganz klar zu identifizieren.
Marthas ehemaliger Arbeitsplatz in Woerden – Aufnahme um 1925 (oben) und bei Ihrem Besuch im Juli 1987 (unten, zum Vergrößern bitte auf die Fotos klicken): Am Eingangstor ist zu erkennen, dass es sich trotz einiger Veränderungen um dasselbe Haus handelt
Als 1991 unser Sohn Tim geboren wurde, ging unsere erste Ausfahrt zu Oma, um ihr das erste Urenkelkind vorzustellen. Auch als Oma in den letzten Jahren ihres Lebens auf dem Hof meines Onkels Gerold wohnte, waren wöchentliche Besuche dort mit Tim die Regel. Er bekam dann von Uroma Martha jedes Mal einen Bonbon – daran kann er sich auch heute mit 24 Jahren noch erinnern.
Auch heute passiert es mir übrigens noch, dass ich, wenn ich jemanden mit einer Huder Vorwahl anrufen möchte, automatisch die alte Telefonnummer von Oma wähle. Der dann folgende Hinweis „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ wird von mir belächelt und die Gedanken sind für einen kurzen Augenblick wieder bei meiner Oma.