Anna Gesine Runge – Biographie

Anna Gesine Runge wird am 14. Dezember 1847 als drittes Kind von Christoph Harms und Anna Margarete Harms auf dem elterlichen Hof am Spainweg in Munderloh (heute: Heiko und Silvia Sudhop) geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Johann Hinrich Harms und Johann Diedrich Harms.

Acht Tage vor Anna Gesines Geburt endet in London die zweite Konferenz des Bundes der Kommunisten. An ihr nehmen unter der Leitung von Karl Marx und Friedrich Engels Vertreter aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien, den Staaten des Deutschen Bundes, aus Schweden, der Schweiz, Großbritannien und den USA teil. Sie alle eint die Vision, den seit der Industrialisierung herrschenden Kapitalismus durch eine klassenlose Gesellschaft zu ersetzen. Entstanden ist die Vereinigung aus dem 1836 vom Exil-Deutschen Wilhelm Weitling in Paris gegründeten Bund der Gerechten, dem Marx und Engels kurz zuvor beigetreten sind und dem das aus der Rheinprovinz nach Brüssel emigrierte Philosophen-Duo seither seinen Stempel aufdrückt. Von den Delegierten erhält es wunschgemäß den Auftrag, den in London vorab präsentierten Entwurf eines Manifestes der Bewegung in seine endgültige Fassung zu bringen.

In den folgenden Wochen arbeiten Marx und Engels in ihrem Brüsseler Domizil fieberhaft daran, den erteilten Auftrag in die Tat umzusetzen. Heraus kommt ein 23-seitiges Traktat, das als Kommunistisches Manifest in die Geschichte eingeht. Es beginnt mit den geflügelten Worten „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ und endet mit der später nicht minder häufig zitierten Aufforderung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Am 21. Februar 1848 liegt das Manifest erstmals in gedruckter Form vor. Seine Veröffentlichung fällt in eine bewegte Zeit: Nur drei Tage danach läutet in Frankreich die Februarrevolution das vorläufige Ende der Monarchie ein, einen Monat später springt der Funke auch auf diverse Staaten des Deutschen Bundes über. In vielen Städten gehen mit Beginn der Märzrevolution Bürger auf die Straße, um von der Obrigkeit demokratische Grundrechte einzufordern.

Unter dem Eindruck der Ereignisse reisen Marx und Engels im April nach Köln und geben von Juni 1848 an die „Neue Rheinische Zeitung“ heraus. Darin legen sie ihre Ziele für einen deutschen Einheitsstaat dar, finden aber in der seit Mai 1848 in Frankfurt tagenden Paulskirchenversammlung kaum Gehör. Die Mehrheit der Abgeordneten will weder eine Herrschaft des Proletariats noch eine Republik nach französischem Vorbild, sondern eine konstitutionelle Monarchie mit einem Kaiser an der Spitze. Dieser Wunsch scheitert jedoch am Widerstand der beiden größten Einzelstaaten Österreich und Preußen. Schon 1849 setzt eine reaktionäre Gegenbewegung ein, in der Radikaldemokraten wie Gustav Struve, Carl Schurz oder Friedrich Hecker ebenso verfolgt werden wie Kommunisten. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, flieht Marx nach Frankreich, Engels geht in die Schweiz. Ende 1849 treffen sich beide wieder und propagieren fortan aus dem Londoner Exil heraus die Weltrevolution.

Ab wie viel Hektar Grundbesitz ist ein Bauer Teil der Bourgeoisie, also der herrschenden Klasse? Eine klare Antwort darauf bleibt das Kommunistische Manifest schuldig. Sofern er sich nicht aktiv auf die Seite des Proletariats schlägt, gilt der Landmann jedoch per se als reaktionär und somit als Gegner. Schwer vorstellbar, dass Marx und Engels mit dieser Haltung bei der nach wie vor stark landwirtschaftlich geprägten Bevölkerung des Großherzogtums Oldenburg auf sonderlich viel Sympathie stoßen – sofern ihre Thesen überhaupt in dessen Dörfer und Gemeinden vordringen. Sonderlich wahrscheinlich ist Letzteres nicht, und an den konkreten Lebensumständen von Anna Gesines Familie ändert weder die Märzrevolution Substanzielles noch ihre Niederschlagung.

Den Hof, auf dem Anna Gesine mit ihren Eltern, den beiden Brüdern und Großmutter Anna Catharine in Munderloh aufwächst, hat ihr 1829 verstorbener Großvater Johann Hinrich Harms 1807 gegründet. Vater Christoph übernimmt den Betrieb 1830 als 18-Jähriger und bewirtschaftet ihn bis zur Heirat 1836 zusammen mit seiner Mutter und Stiefvater Johann Hinrich Osterthun (er stirbt 1849). Ehefrau Anna Margarete Harms wiederum stammt aus Annen in der Gesamtgemeinde Harpstedt. Als Grunderbe vorgesehen ist Anna Gesines zehn Jahre älterer Bruder Johann Hinrich.

Sehr wahrscheinlich ab Frühjahr 1854 besucht Anna Gesine die dorfeigene, vom Elternhaus rund zwei Kilometer entfernte Volksschule. Wie es 1862 nach Schulabschluss und Konfirmation für sie weitergeht, liegt heute weitgehend im Dunkeln. Überliefert ist allerdings die Anekdote, dass Anna Gesine in ihrer Jugendzeit einmal mit einem Ehepaar aus der Nachbarschaft bis zum Bahnhof nach Bremen wandert, um einen Zug zu sehen – inklusive Rückweg eine Wegstrecke von immerhin rund 70 Kilometer. Diese Episode muss sich vor 1867 zugetragen haben, denn danach hätte das Trio nur gut zehn Kilometer bis nach Hude laufen müssen, wo in jenem Jahr ein neuer Bahnhof seine Pforten öffnet.

Im November 1869 heiratet Anna Gesine Johann Hinrich Runge aus Lintel. Ihr künftiger Ehemann bewirtschaftet zusammen mit seinem verwitweten Vater Dierk Runge einen 1753 begründeten Hof am Dammannweg (heute: Hartwig Kück) – der wiederum nur etwas mehr als einen Kilometer von der 1867 eröffneten Bahnstrecke Oldenburg–Bremen entfernt liegt. Deshalb kann Anna Gesine den vorbeifahrenden Zügen vom Küchenfenster aus bequem hinterhersehen. Auch das ein Detail, das die Neu-Lintelerin zusammen mit der Anekdote über den 70-Kilometer-Fußmarsch von Munderloh nach Bremen in späteren Jahren immer wieder gern erzählt.

Kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, an dem auch Soldaten aus Lintel teilnehmen, stirbt Anfang Mai 1870 Schwiegervater Dierk. Zu diesem Zeitpunkt ist Anna Gesine bereits im vierten oder fünften Monat schwanger. Am 3. September 1870 – einen Tag nach der den Krieg zugunsten Deutschlands entscheidenden Schlacht von Sedan bringt sie Sohn Diedrich zur Welt. Mit Aline (Mai 1872), Gesine Mathilde (Juli 1874), Karl (November 1876), Johanne Gesine (April 1879), Gesine (Januar 1882) und Bertha kommen bis April 1884 sechs weitere Kinder hinzu. Drei davon (Gesine Mathilde, Karl und Johanne Gesine) kommen jedoch nicht über das Kleinkind-Alter hinaus, wobei die beiden Erstgenannten im Frühjahr 1878 innerhalb weniger Tage an im Kirchenbuch der Gemeinde Hude nicht näher beschriebenen Krämpfen sterben.

Der Verlust der drei Kinder dürfte Anna Gesine hart treffen. Die vermutlich schwerste Prüfung steht ihr jedoch noch bevor. Am 22. Februar 1887 stirbt Ehemann Johann Hinrich nach einem Treppensturz in einer Huder Gaststätte. Anna Gesine steht von einem Tag auf den anderen alleine mit vier Kindern da, von denen zwei noch nicht einmal eingeschult sind. Immerhin, der älteste Sohn Diedrich ist bereits 16 und hat die Schule abgeschlossen, kann also auf dem Hof in die Fußstapfen des Vaters treten.

Obwohl mit 39 Jahren keineswegs zu alt für einen Neuanfang, heiratet Anna Gesine nicht wieder und zieht ihre Kinder alleine groß. Um nebenbei etwas Geld zu verdienen, vermietet sie die Wohnstube des Hauses zeitweise an einen Schuster, der dort eine kleine Werkstatt einrichtet. Die beiden älteren Töchter verlassen noch vor der Jahrhundertwende den Hof. Aline heiratet den benachbarten Brinksitzer und Stellmacher Heinrich Johann Hoffrogge, ihr im Sommer 1900 geborener Sohn Heinrich ist Anna Gesines erstes Enkelkind. Ihm folgt im Januar 1903 Enkeltochter Alma. Aus der Ehe von Sohn Diedrich mit Gesine Schmidt aus Tweelbäke gehen zwischen 1904 und 1915 vier Kinder hervor: Heinrich, Alwine, Frieda und Emma. Zwei weitere Enkelkinder – Elfriede und Heinz – steuert Tochter Gesine bei, seit 1908 mit dem Huder Lebensmittelhändler Johann Mönning verheiratet.

Wie es Anna Gesine in den schlimmen Jahren des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Inflationszeit konkret ergeht, ist nicht überliefert. Zu den zahlreichen Kriegsopfern gehört glücklicherweise niemand aus ihrer Familie. Die Geburt des ersten Urenkelkindes – Almas Tochter Anne im September 1930 – erlebt sie dann nicht mehr mit: Anna Gesine stirbt am 6. Mai 1928, wenige Monate nach ihrem 80. Geburtstag. Beerdigt ist sie auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.