Alwine Henriette Gorath wird am 2. März 1904 als erstes Kind von Johann Gorath und Anna Gorath auf dem elterlichen Hof in Lintel (heute: Hans Dieter und Lisa Gorath) geboren. Sie ist die ältere Schwester von Johanne Wardenburg, Mathilde Lütjeharms, Heinrich Gorath und Ella Mönnich.
Vier Tage vor Alwines Geburt erlegt ein Förster in der Lausitz den mutmaßlich letzten freilebenden Wolf auf deutschem Staatsgebiet. Damit endet eine beinahe vierjährige Verfolgung, in deren Verlauf das Tier – eine mit 1,60 Metern Länge, einem Widerrist von 80 Zentimetern und einem Gewicht von 41 Kilogramm ungewöhnlich große Fähe – als „Tiger von Sabrodt“ einige Berühmtheit erlangt. Weil nämlich über diesen Zeitraum immer wieder Viehrisse auftreten und Wölfe in der Region schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesichtet worden waren, vermuten Einheimische hinter den Taten zunächst eine aus dem Zirkus ausgerissene Raubkatze. Am Ende sind 18 Jäger vonnöten, um die im Laufe der Hetzjagd mehrfach die Schützenlinie durchbrechende Wölfin zur Strecke zu bringen.
Der letztlich erfolgreiche Schütze erhält als Belohnung ein Kopfgeld von 100 Mark. „Dass vier Jahre vergehen mussten, ehe man dem Satan das Handwerk legte, das ist unverzeihlich. Nun ist Gott sei Dank Ruhe, und den Erfolg werden wir recht bald an unserem Wildstand merken“, kommentiert die Jagd-Zeitschrift „Wild und Hund“ das Geschehen. Der später präparierte, heute auf Schloss Hoyerswerda hinter Glas ausgestellte Kadaver wird nach dem Abschuss mehrere Tage lang zur Besichtigung freigegeben und zieht gegen ein Eintrittsgeld von 10 Pfennig mehr als 500 Besucher an.
Ähnlich wie in der Lausitz existieren auch in anderen Regionen Deutschlands detaillierte Schilderungen über das Schicksal des bis dato jeweils zuletzt erlegten Wolfs, der als Einzelgänger zumeist in einer Treibjagd sein Ende gefunden hat. Etwa im Odenwald, wo es am 12. März 1866 einen 39 Kilogramm schweren Rüden traf. Auch dort war der Jubel über den Tod der „Bestie mit furchtbarem Gebiss“ groß. Oder in der Lüneburger Heide nahe Bergen: Der dort am 13. Januar 1872 geschossene Rüde brachte sogar 45 Kilogramm auf die Waage, bei einer Schulterhöhe von 85 Zentimetern und einer Länge von 1,64 Metern. An ihn erinnert bis heute ein 1892 aufgestellter Gedenkstein im Becklinger Holz.
Im Großherzogtum Oldenburg wiederum, zu dem Lintel gehört, soll den Aufzeichnungen des örtlichen Pastors Dietrich Konrad Muhle zufolge einer der letzten vor Ort gesichteten Wölfe 1740 in der Nähe von Hude erlegt worden sein. Mehr als 160 Jahre vor Alwines Geburt also. Gleichwohl wird sie von frühester Kindheit an eine recht genaue Vorstellung vom „bösen Wolf“ haben – geprägt durch Märchen wie „Rotkäppchen“ oder „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“. Sollte Alwine damit im Elternhaus noch nicht in Berührung kommen, so dann doch spätestens nach ihrer Einschulung in die Volksschule Altmoorhausen. Denn dort spielen „Grimms Märchen“ im Unterricht ganz sicher in der einen oder anderen Form eine Rolle.
Warum Alwine in Altmoorhausen die Schule besucht und nicht in Lintel, ist schnell erklärt. Der Hof ihrer Eltern liegt am äußersten südwestlichen Rand des Dorfes – die eigentlich zuständige Volksschule ist mehr als drei Kilometer entfernt, während es bis nach Altmoorhausen nur zweieinhalb Kilometer sind. Ein Weg, den sie vermutlich morgens und mittags gemeinsam mit den rund einen Kilometer südlicher wohnenden Nachbarstöchtern Martha und Johanne Rüschen zurücklegt. Weitere in etwa gleichaltrige Mitschülerinnen in der zunächst von Emil Wunderlich und von 1912 an von Johann Folkers geleiteten Schule sind unter anderem Anni Düser, Helene Düser und Martha Wachtendorf.
Mitten in Alwines Schulzeit hinein platzt im August 1914 der Erste Weltkrieg und sorgt für diverse Veränderungen. Vater Johann wird – wann genau, ist in der Familie nicht mehr bekannt – zur Armee eingezogen. Im Frühjahr 1916 folgt ihm auch Johann Folkers an die Westfront, woraufhin die Schule in Altmoorhausen vorübergehend geschlossen wird. Die restlichen drei Jahre bis zum Abschluss besucht Alwine deshalb die Volksschule in Hemmelsberg, was in puncto Entfernung allerdings kaum einen Unterschied macht. Der deutlich größere Einschnitt ist denn auch im Oktober 1916 der Tod ihres Vaters, der gegen Ende der über Monate hinweg erbittert geführten Schlacht an der Somme sein Leben verliert.
Wie Alwine diesen Schicksalsschlag verarbeitet, lässt sich knapp 110 Jahre später nur vermuten. Auch ihr weiterer Werdegang nach Schulabschluss, Konfirmation, verlorenem Krieg, Abdankung von Kaiser Wilhelm II. und Ausrufung der Weimarer Republik liegt heute im Dunkeln. Arbeitet sie wie bisher auf dem elterlichen Hof mit, den später einmal der vier Jahre jüngere Bruder Heinrich übernehmen soll? Geht sie irgendwo auf einem anderen Hof in Stellung? Spielt sie angesichts der in den folgenden Jahren immer prekärer werdenden wirtschaftlichen Lage gar wie so viele junge Mädchen ihres Alters mit dem Gedanken, der allgegenwärtigen Not durch Hollandgängerei zu entfliehen?
Welche Pläne auch immer Alwine für ihre Zukunft im Kopf haben mag, zu einer Umsetzung kommt es nicht mehr. Alwine stirbt am 24. Mai 1922 – knapp drei Monate nach ihrem 18. Geburtstag – an einer zu spät behandelten Blinddarmentzündung und wird wenige Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.