Gerhard Wachtendorf wird am 14. Dezember 1902 als fünftes Kind von Johann Friedrich Wachtendorf und Metta Wachtendorf auf dem elterlichen Hof in Lintel geboren (heutiger Besitzer des ganz in der Nähe errichteten Neubaus: Hans-Gerd Wefer). Er ist der jüngere Bruder von Hinrich Wachtendorf, Anna Borgmann, Clara Osterthun und Hermann Wachtendorf und der ältere Bruder von Johann Wachtendorf und Gesine Mindermann.
In den frühen Morgenstunden von Gerhards Geburtstag verabschiedet der Deutsche Reichstag in Berlin die Kompromissfassung eines neuen Zolltarifgesetzes. Im Zentrum des mehr als zwölfmonatigen Tauziehens um das neue Gesetz steht eine vom Bund der Landwirte geforderte Erhöhung der Zölle für Getreide. Um den heimischen Produzenten einen Vorteil zu verschaffen, fordert der Bauernverband anfangs einen Zoll von mindestens 7,50 Mark pro Doppelzentner (bislang: 3,50 Mark). Dies lehnt sowohl die am freien Welthandel interessierte Industrie ab als auch die SPD, deren Vertreter in der Folge Preiserhöhungen für Lebensmittel fürchten.
Mit den im Vorfeld eingebrachten Änderungen zeigen sich am Ende zwar die Deutschkonservative Partei und die Nationalliberalen zufrieden, nicht jedoch die Freisinnige Volkspartei und die Sozialdemokraten. Letztere versuchen das Gesetz noch im letzten Moment zu stoppen, indem ihr Abgeordneter Otto Antrick am Nachmittag des 13. Dezember zur längsten Rede ansetzt, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde. Sie dauert acht Stunden und beginnt mit den Worten „Für mich ist das kein Spaß, für mich ist das eine Anstrengung, aber ich erfülle hier meine Pflicht. Ich werde, solange meine physischen Kräfte ausreichen, diese Stelle nicht verlassen, Sie mögen machen, was Sie wollen.“ Eine Handhabe, Antrick zu stoppen, hat Parlamentspräsident Franz von Ballestrem nicht.
Letztlich hat die SPD mit ihrer Taktik keinen Erfolg. Als Antrick eine halbe Stunde nach Mitternacht aufgibt, wird die Sitzung trotz der weit fortgeschrittenen Zeit nicht abgebrochen. Um 5 Uhr morgens kommt es zur Abstimmung, in der das Parlament gegen die Stimmen der Sozialdemokraten einen Mindestzoll von 5,50 Mark für Weizen und von je 5 Mark für Roggen und Hafer beschließt.
Die Entscheidung im fernen Berlin wird in Gerhards Umfeld wahrscheinlich begrüßt – schließlich lebt Vater Johann Friedrich wie die meisten seiner Nachbarn in Lintel und im benachbarten Hurrel von der Landwirtschaft. Als existenzbedrohend erweist sich einige Jahre später allerdings nicht die Sozialdemokratie, sondern ein tragisches Unglück. Noch bevor Gerhard eingeschult wird, brennt der von der Familie bewirtschaftete, in unmittelbarer Nähe der Hurreler Ortsgrenze gelegene Hof bis auf die Grundmauern nieder. Der Linteler Chronik von Walter Janßen-Holldiek zufolge soll ein Blitzschlag im Jahre 1907 die Ursache gewesen sein – eine Version, der Gerhards Neffe Heinrich Osterthun aus Tweelbäke in seinen 1991 zu Papier gebrachten Erinnerungen allerdings energisch widerspricht: Der Brand habe laut Erzählungen seiner Eltern und seines Großvaters bereits im April 1905 – unmittelbar nach der Geburt von Gerhards jüngster Schwester Gesine – stattgefunden, als Landstreicher oder Wandergesellen eines Morgens in der Scheue auf offenem Feuer ein Frühstück zubereiteten.
Nach dem Brand geben Johann Friedrich und Metta Wachtendorf die ursprüngliche Siedlungsstelle auf und errichten einige hundert Meter entfernt auf der gegenüberliegenden, von Lintel aus gesehen rechten Seite der heutigen Straße „Am Holze“ einen neuen Hof. Dort wächst Gerhard in den folgenden Jahren auf und besucht – sehr wahrscheinlich ab Frühjahr 1909 – acht Jahre lang die Volksschule in Lintel.
Als Gerhard dieser Zeitrechnung zufolge 1917 die Schule verlässt, steckt Deutschland mitten im Ersten Weltkrieg, zu dem zunächst sein Vater und später auch sein älterer Bruder Hinrich eingezogen werden. Allen Wirren zum Trotz muss es jedoch in den Jahren zuvor jemanden geben, der Gerhards musische Begabung erkennt und fördert: Er erlernt unter anderem Trompete und Geige und gehört schon bald nach Kriegsende dem von Georg Martens geführten Instrumental-Verein in Hude an. Daneben geht er auf einem Hof in der näheren Umgebung in Stellung – wo genau, ist allerdings nicht mehr bekannt.
Die Chance auf einen eigenen Hof ergibt sich für Gerhard eher unverhofft. Vater Johann Friedrich hatte 1927 für sich und seine seit Anfang der 20er Jahre durch einen Schlaganfall ans Bett gefesselte Frau von Dietrich Schütte ein 1923 an der Hurreler Straße neu errichtetes Wohn- und Stallgebäude (heute: Egon Wachtendorf und Elke Brumund) mit zwei Hektar Land gekauft. Dieser Betrieb wird zunächst von Gerhards Schwester Gesine und ihrem Ehemann Heinrich Mindermann bewirtschaftet, die seit ihrer Hochzeit 1928 mit im Haus wohnen. Als Gesine jedoch nach der Geburt der Zwillingstöchter Anneliese und Gisela im August 1930 gehbehindert bleibt und Heinrich sich daraufhin beruflich neu orientiert, verzichtet Gesine auf ihr Erbe und Gerhard rückt nach seiner Hochzeit mit Martha Rüscher im Mai 1932 an ihre Stelle.
Nach der Erzählungen innerhalb der Familie zufolge bei strömendem Regen auf dem Hof gefeierten Hochzeit bewirtschaften Gerhard, Martha und Johann Friedrich den Betrieb gemeinsam, zudem löst Martha Gerhards Schwester Gesine in der Pflege ihrer Schwiegermutter ab. Metta Wachtendorf stirbt im Februar 1934 im Alter von 60 Jahren, fünf Monate vor der Geburt von Gerhards und Marthas Tochter Elfriede. Im Dezember 1936 kommt mit Sohn Gerold das zweite Kind zur Welt.
Trotz seiner Arbeit als Landwirt bleibt Gerhard der Musik treu – nicht nur als Mitglied des Huder Instrumental-Vereins, sondern auch in einer neben Gerhard unter anderem aus Karl Diedrich Timmermann, Friedel Timmermann und Gerd Nehls bestehenden Kapelle namens „Hemmelsberger Blechmusik“, die in der Region regelmäßig zu Hochzeiten, Schützenfesten und anderen Feierlichkeiten aufspielt. Dazu heißt es in der 1999 veröffentlichten Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Hurreler Schützenvereins: „Gerhard Wachtendorf war damals in Hurrel wohl der bekannteste Mann, denn er machte die Musik zu jedem Anlass.“ Für die nicht eben zum Bersten gefüllte Familienkasse bringt dieser Nebenerwerb, mag er auch mit allerlei Aufwand verbunden sein, so manche zusätzliche Mark.
Wäre es nach Gerhard gegangen, hätte es sicher noch lange so weiterlaufen können. Doch wie das Schicksal vieler anderer Hurreler verändert der von den seit Anfang 1933 regierenden Nationalsozialisten begonnene Zweite Weltkrieg auch sein Leben von Grund auf. Weil mit Vater Johann Friedrich ein weiterer arbeitsfähiger Mann zum Haushalt gehört, wird Gerhard relativ rasch zur Wehrmacht eingezogen.
Nach der Grundausbildung zum Schützen in Oldenburg-Osternburg ist Gerhard zunächst in Lüneburg stationiert. Später wird er an die Ostfront abkommandiert, wo er in Russland einen Armdurchschuss erleidet. Nach einem kurzen Lazarett-Aufenthalt in Gütersloh kehrt Gerhard nur noch einmal nach Hause zurück: kurz vor Weihnachten 1944, als er jedoch bereits unmittelbar vor Heiligabend wieder mit dem Zug an die Front muss. Wenige Wochen später, am 29. Januar 1945, fällt er nahe der niederschlesischen Stadt Crossen. Wo genau seine sterblichen Überreste begraben sind, ist nicht bekannt. Eine Überführung zum Sammelfriedhof in Poznan-Milostowo, wo die Deutsche Kriegsgräberfürsorge in einem Gedenkbuch an Gerhard erinnert, konnte deshalb bis heute nicht stattfinden.