Heinrich Diedrich Dählmann wird am 23. Mai 1904 als achtes Kind von Johann Dählmann und Anna Dählmann auf dem elterlichen Hof in Neuenkoop (heute: Günter Schwarting) geboren. Er ist der jüngere Bruder von Johann Dählmann, Gerhard Dählmann, Helene Osterloh, Heinrich Dählmann, Georg Dählmann, Adolf Dählmann und Gerhard Dählmann.
Auf dem am 24. Mai 1904 in Weimar stattfindenden „Ersten allgemeinen Tag für deutsche Erziehung“ üben Reformpädagogen scharfe Kritik am bestehenden Schulwesen. Der Steglitzer Gymnasiallehrer Ludwig Gurlitt etwa – ein Förderer der Wandervogel-Bewegung – mahnt eine Abkehr von der „Buchgelehrsamkeit“ an, stattdessen solle dem „Selbstdenken“ und dem „Selbsttun“ mehr Raum gegeben werden. Unterricht im klassischen Sinne ist für Gurlitt „eine Rüstkammer von geistiger Marter und Folterwerkzeugen“. Schulen müsse es ein Anliegen sein, dass jedes Kind seine Eigenarten möglichst frei entfalten könne. Herkömmliche Pädagogik-Bücher hingegen seien voll von Vorschriften, wie man die Fehler der Kinder bekämpfen müsse.
Ein Gedanke, der im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus auf fruchtbaren Boden fällt. So entwickelt sich 1904 der in eine ähnliche Richtung zielende Ratgeber „Jugendlehre“ des an der Universität Zürich lehrenden Berliner Philosophen Friedrich Wilhelm Foerster binnen kurzer Zeit zum Verkaufsschlager. Als Vorbild gilt vielen Reformpädagogen Schweden. Dort besucht der österreichische Schriftsteller Rainer Maria Rilke im Herbst 1904 die in Göteborg drei Jahre zuvor neu errichtete Versuchsschule Samskola und zeigt sich in einem späteren Aufsatz begeistert: „Man fühlt gleich, wenn man die Schule betritt, den Unterschied. Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit.”
Geht es um das Thema Bildung, zeigen sich nicht nur Reformpädagogen unzufrieden, sondern auch Frauenrechtlerinnen. Mit Württemberg öffnet im Mai 1904 nach Baden und Bayern erst der dritte deutsche Staat seine Universitäten für Studentinnen. Im Wintersemester 1903/04 waren gerade einmal 85 Frauen an deutschen Hochschulen eingeschrieben – deutlich weniger als etwa in Großbritannien, Skandinavien oder der Schweiz. Auch an den Volksschulen rumort es. So fordert der 1871 gegründete Deutsche Lehrerverein auf seiner Hauptversammlung am 26. Mai 1904 in Königsberg eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungssituation. Vor allem in ländlichen Gebieten unterrichten Lehrer teilweise über 100 Schüler verschiedener Altersstufen in einem Raum. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Kinder einen kilometerweiten Schulweg zurücklegen und regelmäßig auf den elterlichen Höfen mitarbeiten müssen.
Letzteres trifft nach seiner Einschulung sicherlich auch auf Heinrich zu. Allerdings fällt die Arbeit nicht mehr in seinem Geburtsort Neuenkoop an, sondern im knapp zehn Kilometer südwestlich gelegenen Lintel. Dort kaufen seine Eltern 1910 den ehemaligen Hof von Johann Christian Witte (heute: Renke und Heiko Dählmann), weil Mutter Anna das feuchte Klima der Wesermarsch nicht verträgt und sich durch den Umzug Besserung für ihre angeschlagene Gesundheit verspricht. Dabei hat Heinrich das Glück, dass der Weg zur dorfeigenen Volksschule lediglich etwas mehr als 600 Meter beträgt und dass für die jüngeren Schüler bereits seit 1907 ein separater Klassenraum existiert. Für Schulleiter Adolf Christian Poppe eine spürbare Erleichterung, wie es damals in einem Bericht des Gemeindepfarrers heißt: Er sei dadurch bedeutend ruhiger geworden.
Sowohl mit Poppe als auch mit den mehrfach wechselnden Lehrern der Unterklasse scheint Heinrich gut zurechtzukommen: Eigenen Erzählungen zufolge hat er Spaß am Unterricht und bringt in aller Regel gute Noten nach Hause. Eine von den nach wie vor auftretenden Rheuma-Schüben der Mutter abgesehen weitgehend unbeschwerte Kinderzeit also, für die der Erste Weltkrieg dann aber einen tiefen Einschnitt bedeutet. Zwar ist Johann Dählmann im Sommer 1914 mit 57 Jahren zu alt, um noch zur Kaiserlichen Armee einberufen zu werden. Anders als Mitschüler wie Heinrich Hoffrogge, Heinrich Quitsch oder Johann Wachtendorf muss Heinrich also nicht um die sichere Rückkehr des Vaters bangen – wohl aber um Leben und Gesundheit der älteren Brüder. Davon losgelöst dürfte die anfangs sicher auch in seiner Familie vorherrschende Hoffnung auf ein schnelles und glückliches Kriegsende schon bald einer realistischeren Einschätzung weichen.
Als der am 11. November 1918 geschlossene Waffenstillstand von Compiègne die deutsche Niederlage besiegelt und die Weimarer Republik das Kaiserreich ablöst, ist Heinrich 14 Jahre alt. Gemäß des in der Gemeinde Hude geltenden Jüngstenrechts steht er als Erbe des elterlichen Betriebs fest, worauf er sich nach Schulabschluss und Konfirmation durch den Besuch der Landwirtschaftsschule und ein Fremdjahr auf dem Hof Albers in Bürstel vorbereitet.
Bis auf den drei Jahre älteren Bruder Gerhard haben bei Heinrichs Rückkehr aus Bürstel die anderen noch lebenden Geschwister (zwei ebenfalls auf die Namen Gerhard und Heinrich getaufte Brüder sind 1894 am ursprünglichen Familiensitz in Loy verstorben) den Dählmann-Hof bereits verlassen. Neben seinen Eltern und Gerhard lebt somit nur noch Großmutter Almut Helene dort. Sie stirbt im März 1927 im Alter von 99 Jahren. Mutter Anna folgt ihr lediglich ein Jahr später. Im Haushalt hilft während dieser Zeit unter anderem Käthe Quitsch aus – eine Schwester von Heinrichs ehemaligem Schulkameraden Heinrich Quitsch, die 1930 in die USA auswandert. Weil er Anna und Almut Helene zuvor häufig in der Küche zur Hand gegangen ist, bereitet es Heinrich aber auch keine Probleme, Vater Johann, Gerhard und sich selbst von Zeit zu Zeit allein zu versorgen.
Eine Übergangsphase, die Heinrichs Hochzeit mit Anny Schröder im März 1931 relativ rasch beendet. Wann und bei welcher Gelegenheit die künftigen Eheleute ihre Gefühle füreinander entdecken, liegt heute im Dunkeln. Miteinander bekannt sind beide jedoch seit frühester Jugend: Der Hof von Annys Eltern liegt in direkter Nachbarschaft zum früheren Dählmann-Hof in Neuenkoop, und kurz vor dem Umzug nach Lintel – so wird es Heinrich später immer wieder gern erzählen – schiebt der damals knapp sechsjährige Bräutigam seine künftige, fünf Jahre jüngere Braut im Kinderwagen hin und her.
Knapp zwei Wochen vor dem ersten Hochzeitstag kommt im März 1932 Tochter Hanna zur Welt. Zwischen diesem freudigen Ereignis und der Geburt von Sohn Werner im April 1935 liegen politisch Welten: Die in der Bevölkerung über wenig Rückhalt verfügende Weimarer Republik gerät durch die aus den USA herüberschwappende Weltwirtschaftskrise dermaßen ins Trudeln, dass die von Wahl zu Wahl stärker auftrumpfenden Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht übernehmen und der Demokratie mit dem sieben Wochen später vom Reichstag beschlossenen Ermächtigungsgesetz den Todesstoß versetzen. Danach ist der Marsch in den von Terror nach innen und zunehmend aggressiverem Gebaren nach außen geprägten NS-Staat nicht mehr aufzuhalten.
Dieser letztlich verhängnisvollen Entwicklung schenken Heinrich und Anny in Lintel vermutlich zunächst nur wenig Beachtung. Denn spätestens seit Werners Geburt haben sie andere Sorgen: Ihr Sohn leidet unter einem irreparablen Herzfehler, er stirbt im Juli 1936 im Alter von nur 15 Monaten. Ein Verlust, über den im Dezember 1937 die Geburt der zweiten Tochter Ursel zumindest ein Stück weit hinwegtröstet. Das folgende, durch den Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes sowie die Reichspogromnacht gekennzeichnete Jahr bringt Europa dann an den Rand eines neuen Krieges – trotz oder vielleicht gerade wegen der von Großbritannien und Frankreich gegenüber NSDAP-Führer Adolf Hitler betriebenen Beschwichtigungs-Politik. Er beginnt am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen.
Anders als viele Nachbarn wird Heinrich bei Kriegsausbruch zunächst nicht zur Wehrmacht eingezogen, sondern kann sich weiter der Landwirtschaft widmen. Jeweils zu den Weihnachts-Feiertagen wächst zudem die Familie um zwei weitere Mitglieder: Im Dezember 1941 kommt Sohn Heiko hinzu, zwölf Monate später Tochter Almut. Im Jahr darauf – an der Ostfront und in Nordafrika ist die Wehrmacht bereits auf dem Rückzug – heißt es Abschied nehmen von Vater Johann, der im Alter von 86 Jahren stirbt. Ebenfalls 1943 erhält Heinrich dann doch noch einen Stellungsbefehl, steht aber in den deutsch besetzten Niederlanden zunächst nicht an vorderster Front. Das ändert sich erst nach der Invasion in der Normandie im Juni 1944, in deren Folge alliierte Truppen auch Belgien und die Niederlande befreien.
Auf dem Rückzug vor Briten, Amerikanern und Kanadiern verschlägt es Heinrich wieder nach Ostfriesland, wo er bereits 1944 einige Monate als Mitglied eines Wachbataillons stationiert war. Am 19. April 1945 wird er unter nicht näher bekannten Umständen durch einen Granatsplitter an der rechten Fußsohle verletzt. Was sich zunächst eher harmlos anhört, mündet um ein Haar in die Amputation des Unterschenkels, denn die im Chaos der letzten Kriegswochen nur schlecht versorgte Wunde entzündet sich. Heinrich liegt fast drei Monate im Lazarett – zunächst in Leer, dann in Jever. Erst Mitte Juli 1945 wird er nach Hause entlassen.
In Lintel findet Heinrich seinen Hof unbeschädigt vor, angesichts von nicht weniger als neun Bombentrichtern in der unmittelbaren Umgebung keine Selbstverständlichkeit. Auch Ehefrau Anny und die Kinder sind wohlauf. So gilt es zwar angesichts des in praktisch allen Bereichen des täglichen Lebens spürbaren Mangels einige schwierige Jahre zu überstehen, doch diese sind spätestens mit der Währungsreform vom Juni 1948 abgehakt. Heinrich, einen Monat zuvor 44 Jahre alt geworden, stellt in der Folge die Weichen auf Wachstum und stockt den Bestand an Tieren kontinuierlich auf. Mit bis zu zehn Milchkühen, 80 Mastschweinen und 500 Legehennen verdient er in den 50er Jahren gutes Geld, das er zum größten Teil wieder in den damals knapp 20 Hektar großen Betrieb investiert.
Der Vergrößerung der hofeigenen Scheune folgt 1960 die Modernisierung des Wohnhauses, mit einer Melkmaschine und einem 27-PS-Schlepper von Hanomag sowie dem dazugehörigen Ackergerät hält einige Jahre später auch moderne Technik Einzug. Wobei Heinrich auf diesem Feld seinem als Hoferben gesetzten Sohn Heiko den Vortritt lässt: Er selbst arbeitet lieber weiter traditionell mit Pferdepflug und Sense. Konsequenterweise bleibt die Pferde- und Rinderzucht zeitlebens eines seiner liebsten Hobbys. Einen Auto-Führerschein macht Heinrich ebenfalls nie, am Steuer des für die Familie 1961 angeschafften Ford Taunus sitzt zunächst ausschließlich Heiko.
Viel Freude bereiten Heinrich neben der Tierzucht die Übungsabende des Linteler Männergesangvereins Harmonie, dem er seit Mitte der 20er Jahre angehört. Zwischen 1951 und 1969 hat er dort den Vorsitz inne und organisiert in dieser Zeit für die Sangesbrüder neben zahlreichen Auftritten auch Stiftungsfeste oder Wanderausflüge. Im zweiten Verein des Dorfes, dem Schützenverein, ist Heinrich ebenfalls Mitglied, nimmt aber nur sporadisch an Veranstaltungen teil.
Nachdem Heinrichs und Annys älteste Tochter Hanna schon seit 1955 mit Hans Bölts aus Halfstede verheiratet ist, verlassen 1964 im Abstand von nur drei Monaten auch die beiden anderen Töchter ihr Elternhaus: Ursel heiratet im Februar den Hurreler Gastwirtssohn Bodo Mehrings, Almut im Mai den Landwirt Herbert Meyerholz aus Havekost. Hoferbe Heiko lässt sich etwas länger Zeit, er stellt seine Auserwählte Helga Egbers aus Dingstede 1971 erstmals vor und feiert im Februar des folgenden Jahres Verlobung.
Als Heiko und Helga im September 1972 heiraten, ist Anny Dählmann bereits an Lungenkrebs erkrankt, sie stirbt im Januar 1973. Für Heinrich ein schwerer Verlust, der ihn eine Zeitlang sogar die Freude am Singen verlieren lässt. Knapp fünf Jahre später wird dann im November 1977 Schulfreund, Sangesbruder und Nachbar Hans Hoffrogge durch einen tragischen Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen – auch dies ein Ereignis, das Heinrich lange auf der Seele liegt. Für Ablenkung sorgen die auf dem eigenen Hof aufwachsenden Enkel Hauke, Insa und Renke, die in ihrer Generation nach zuvor schon zehn Enkelkindern in Halfstede, Hurrel und Havekost den Schlusspunkt setzen.
Obwohl Heinrich bei Renkes Geburt im Februar 1979 kurz vor seinem 75. Geburtstag steht, arbeitet er noch täglich auf dem inzwischen von Heiko zielstrebig weiter ausgebauten Hof mit. Auch im Männergesangverein, der ihn 1969 zum Ehrenvorsitzenden ernannt hat, ist er nach wie vor aktiv. Zu einem weiteren Hobby im Alter entwickelt sich das Radfahren. So unternimmt er immer wieder ausgedehnte Tagestouren, auf denen er verschiedene Ziele ansteuert und dabei bis zu 50 Kilometer zurücklegt. Die bei zahlreichen Anlässen unter Beweis gestellte Fähigkeit, Gedichte oder andere Texte auswendig zu lernen und mit ihrer Hilfe beeindruckende Festreden zu halten, lässt bis ins hohe Alter ebenfalls nicht nach.
Nach seinem 90. Geburtstag, den er mit der um elf Urenkel gewachsenen Familie, Freunden und Nachbarn in der Gaststätte von Tochter Ursel in Hurrel feiert, beschäftigt sich Heinrich noch einmal ausführlich mit der Geschichte der eigenen Vorfahren. Anlass ist eine von Schwiegertochter Helga zusammengestellte Chronik, der im September 1994 ein Treffen der verschiedenen Dählmann-Zweige in Loy folgt – für Heinrich noch einmal ein ganz besonderer Tag. Beim nächsten Mal wieder mit dabei zu sein, ist ihm allerdings nicht mehr vergönnt: Heinrich stirbt am 20. November 1995 im Alter von 91 Jahren und wird vier Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.