Johann Hinrich Witte wird am 19. Juni 1908 als zweites Kind von Johann Diedrich Witte und Aline Witte auf dem elterlichen Hof in Lintel (heute: Rainer und Anne Witte) geboren. Er ist der jüngere Bruder von Adele Langhoop und der ältere Bruder von Alma Logemann. Daneben hat er mit Martha Punke, Johann Heinrich Georg Witte, Hermann Gerhard Witte und Karl Witte noch vier ältere Halbgeschwister aus der ersten Ehe seines Vaters mit Gesine Catharine Witte.
Der Juni 1908 steht in Europa im Zeichen zweier Großveranstaltungen, deren Anlässe gegensätzlicher kaum sein könnten. Am 12. Juni verfolgen in Wien mehr als 300.000 Zuschauer den Huldigungs-Festzug für den seit 60 Jahren regierenden Kaiser Franz Joseph. Dessen Thron-Besteigung jährt sich zwar erst im Dezember, liefert aber bereits seit Jahresbeginn Anlass für diverse Festivitäten. An diesem Tag ziehen auf der Wiener Ringstraße mehr als 12.000 jubelnde Menschen aus allen Teilen der Habsburger-Monarchie an Franz Joseph vorbei, viele davon in historischen Kostümen. Das farbenfrohe Spektakel soll die Einheit des Vielvölkerstaats demonstrieren, die aber längst auf der Kippe steht: Ungarn, Tschechen und Slowaken fordern ebenso wie Slowenen, Kroaten, Serben, Rumänen, Polen und Ukrainer seit langem mehr Autonomie gegenüber der Zentralregierung.
In London bringt der „Women’s Sunday“ neun Tage später sogar fast 500.000 Menschen auf die Beine. In einem Sternmarsch ziehen 30.000 Suffragetten aus sieben Richtungen zum Hyde Park. Dort fordern führende Vertreterinnen der Women’s Social and Political Union wie Emmeline Pankhurst einmal mehr das Frauenwahlrecht ein – eine Forderung freilich, der Großbritanniens Premierminister Herbert Henry Asquith wenig bis gar nichts abgewinnen kann: Er weigert sich beharrlich, eine vor seinem Amtssitz wartende Abordnung der Demonstrantinnen zu empfangen.
Mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann nehmen auch zwei führende deutsche Frauenrechtlerinnen am Sternmarsch teil. Dass ihr 1902 in Hamburg gegründeter Verband für Frauenstimmrecht weder bei Kaiser Wilhelm II. noch bei der Mehrheit der im Reichstag vertretenen Parteien offene Türen einrennt, versteht sich aber angesichts des damaligen Zeitgeistes fast schon von selbst. Ersterer feiert übrigens vier Tage vor Johanns Geburt ebenfalls ein rundes Jubiläum: Am 15. Juni 1908 jährt es sich zum 20. Male, dass Wilhelm die Nachfolge seines 1888 verstorbenen Vaters Friedrich III. angetreten hat. Offiziell gefeiert wird dieses Ereignis im Deutschen Reich allerdings nicht.
Umso glanzvoller fallen fünf Jahre später überall im Land die Feiern zum silbernen Thron-Jubiläum aus. Auch Lintel dürfte am 15. Juni 1913 dem festlichen Anlass entsprechend geschmückt sein, und vermutlich versammeln sich an diesem denkwürdigen Sonntag nicht nur die Mitglieder des örtlichen Schützenvereins und des Männergesangvereins „Harmonie“ rund um den einige Jahre zuvor zum Dorfmittelpunkt aufgestiegenen Gasthof von Fritz Knutzen, sondern auch die meisten anderen Bewohner.
Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Von Johanns älteren Halbgeschwistern können mit Johann Heinrich Georg und Hermann Gerhard zwei nicht mehr dabei sein – sie sind 1899 beziehungsweise 1900 im Säuglingsalter verstorben. Mit seinen Eltern und den vier anderen Geschwisterkindern erlebt Johann 14 Monate später den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an dem der 1913 noch als „Friedenskaiser“ gefeierte Wilhelm eine gehörige Mitschuld trägt. Anders als viele andere Familienväter des Dorfes muss Johann Diedrich Witte allerdings sehr wahrscheinlich nicht mehr zur kaiserlichen Armee einrücken, Johanns Vater ist im August 1914 bereits 45 Jahre alt.
Ab dem Frühjahr 1915 besucht Johann die von seinem Elternhaus knapp einen Kilometer entfernte Volksschule Lintel. Dort gehören unter anderem Hans Hoffrogge, Karl Logemann, Hinrich Möhlenbrock, Georg Neuhaus, Hermann Neuhaus und Friedrich Nutzhorn zu seinen in etwa gleichaltrigen Mitschülern. Drei Jahre später endet der Krieg mit einer deutschen Niederlage – Kaiser Wilhelm dankt nach 30 Jahren im Amt ab und macht Platz für eine von vielen Zeitgenossen ungeliebte Republik.
Die beginnenden 20er Jahre sind für Johann allen politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz von einer Gewissheit geprägt: Als einziger Sohn aus der zweiten Ehe seines Vaters wird er den elterlichen Hof erben, der zu den ältesten des Dorfes gehört und eine Fläche von rund 20 Hektar umfasst. Halbbruder Karl wandert derweil in die USA aus – möglicherweise inspiriert von seinem gleichaltrigen Schulkameraden Diedrich Logemann, der diesen Weg 1924 unter dem Eindruck der gerade erst zu Ende gegangenen Hyperinflation nimmt. Halbschwester Martha hat bereits im Oktober 1922 Heinrich Punke aus Grummersort geheiratet und ist auf den Hof ihrer Schwiegereltern gezogen.
Im August 1926 stirbt Vater Johann Diedrich, mit gerade einmal 18 Jahren steht Johann nun voll in der Verantwortung. Zum lebenden Inventar des Hofes gehören zu diesem Zeitpunkt 17 Rinder (darunter 5 Milchkühe), 7 Schweine, 30 Hühner und 2 Pferde. Auf der Basis eines damals vom Huder Auktionator Heinrich Haverkamp angefertigten, vom geschätzten Ertragswert der Grunderbstelle bis zum letzten Teelöffel sämtliche Vermögensgegenstände des Hofes aufführenden Nachlassverzeichnisses muss Johann seinen Geschwistern in den folgenden zwei Jahrzehnten ihren Erbteil auszahlen.
Wann und bei welcher Gelegenheit Johann seine künftige Ehefrau Johanne Eilers aus Vielstedt kennenlernt, ist in der Familie nicht mehr bekannt. Beide heiraten am 5. Februar 1937, drei Jahre nach dem Tod von Johanns Mutter Aline. Nur einen Monat später kommt Sohn Lothar zur Welt. Eine Welt, die mittlerweile völlig anders aussieht als noch ein Jahrzehnt zuvor: Die betont liberale und längst auch von den ehemaligen Kriegsgegnern geachtete Weimarer Republik ist nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 zum totalitären NS-Staat mutiert, dessen Führer Adolf Hitler außenpolitisch mehr und mehr auf Konfrontationskurs geht. Als die neu aufgestellte Wehrmacht am 1. September 1939 auf Hitlers Befehl hin Polen überfällt, beginnt der Zweite Weltkrieg.
Da er schon seit der Kindheit unter Asthma leidet, bleibt Johann zunächst von einer Einberufung verschont. Er bewirtschaftet in Lintel wie bisher seinen Hof und erlebt in dieser Zeit die Geburt der weiteren Kinder Gunda (April 1940) und Dieter (Januar 1942). Als die militärische Lage Anfang 1944 immer hoffnungsloser wird, erhält Johann dann aber doch noch einen Stellungsbefehl. Er rückt nach kurzer Ausbildung Richtung Frankreich ab, wo die Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie den Atlantikwall überwinden. Bei den anschließenden Kämpfen kommt Johann wie hunderttausende andere Soldaten beider Seiten ums Leben – unter welchen Umständen, ist bis heute ungeklärt. Ein letzter, in der Nähe von Caen geschriebener Brief an Ehefrau Johanne erreicht sein Ziel am 16. August 1944. Danach gilt Johann als vermisst.
Offiziell für tot erklärt das Amtsgericht Oldenburg Johann am 9. Oktober 1948, als Todeszeitpunkt wird der 15. August 1944 festgelegt. Ein 1950 beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gestellter Suchantrag ergibt sieben Jahre später, dass Johann nahe der Ortschaft Les Moutiers-en-Cinglais gefallen ist und seine sterblichen Überreste am 28. April 1948 auf die Kriegsgräberstätte La Cambe umgebettet wurden (Block 38, Grab 390). Der größte deutsche Soldatenfriedhof in der Normandie liegt nur wenige Kilometer vom Omaha Beach entfernt, wo am 6. Juni 1944 der „D-Day“ begann.