Mathilde Gesine König wird am 6. Mai 1889 als drittes Kind von Johann Heinen und Gesine Margarethe Heinen im Wüstinger Ortsteil Wraggenort geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Hinrich Heinen und Anna Haase. Daneben hat sie noch einen jüngeren, am 29. August 1891 geborenen Bruder, der aber noch am selben Tag stirbt und namenlos bleibt.
Am Tag von Mathildes Geburt eröffnet Frankreichs Präsident Sadi Carnot in Paris die zehnte Weltausstellung. Sie steht ganz im Zeichen der Französischen Revolution, die 100 Jahre zuvor ihren Anfang nahm. Aus diesem Grund sind viele monarchisch geprägte Nachbarländer wie das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, die Niederlande, Großbritannien und Russland nur mit kleinen Abordnungen vertreten. Das Gros der Aussteller stammt aus Frankreich und seinen Kolonien sowie aus den USA und der Schweiz. Da anfangs noch nicht alle Gebäude fertiggestellt sind und noch einige Exponate fehlen, hält sich der Besucherandrang zunächst in Grenzen: Bis Ende Mai strömen pro Tag selten mehr als 30.000 oder 40.000 Menschen auf das rund 95 Hektar große Messegelände.
Schon im Laufe des Sommers steigt das Interesse jedoch deutlich. Zu den Haupt-Attraktionen gehören neben dem im Vorfeld heftig umstrittenen, als Wahrzeichen errichteten Eiffelturm und einer gigantischen Maschinenhalle diverse Kolonial-Ausstellungen. In der „Straße von Kairo“ etwa gibt es erstmals in Paris einen Bauchtanz zu sehen. Weil die Behörden um Zucht und Ordnung fürchten, erwägen sie zeitweise sogar eine Schließung des entsprechenden Lokals – was die Massen umso stärker anzieht. Für Furore sorgt auch der erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentierte Phonograph von Thomas Alva Edison. Die Besucher seines stets umlagerten Standes zeigen sich fasziniert von der Möglichkeit, die eigene Stimme aufnehmen und von der Wachswalze wiedergeben zu lassen.
Vergleichsweise wenig Resonanz beim Publikum ruft eine deutsche Erfindung hervor, der von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach konstruierte Stahlradwagen. Für ein derartiges Fortbewegungsmittel scheint die Zeit noch nicht reif. Trotzdem zahlt sich die Teilnahme an der Weltausstellung auch für Daimler aus. Er schließt nämlich mit Louise Sarazin, der Witwe eines langjährigen Geschäftsfreundes, einen Lizenzvertrag für die Nutzung des von ihm entwickelten Motors. Sarazin heiratet 1890 den französischen Automobil-Pionier Émile Levassor, der daraufhin den von Daimler lizensierten Motor nicht nur in seine eigenen Modelle einbaut, sondern sie auch an den Wettbewerber Peugeot liefert.
Hätte Mathildes Vater Johann 1889 Gelegenheit gehabt, nach Paris zu reisen – als Angestellter der Großherzoglich Oldenburgischen Eisenbahn hätte auch er sich vermutlich nicht sonderlich für den Stahlradwagen interessiert. Dafür wahrscheinlich umso mehr für die eigens zur Weltausstellung in Betrieb genommene Schmalspurbahn, mit der die Gäste über das Gelände fahren können. Und natürlich für die als „großartigste Erfindung der Neuzeit“ gepriesene Wasserkissengleitbahn, auf deren Schienen die Waggons nahezu lautlos dahinzuschweben scheinen. Ein in der Tat revolutionäres Konzept, das aber angesichts des hohen Wasserverbrauchs und der fehlenden Winterfestigkeit nur wenig praxistauglich ist. Anders als das zügig weiterentwickelte Automobil verschwindet es deshalb schnell wieder in der Versenkung.
Bis Automobile überall in Deutschland zum vertrauten Straßenbild gehören, vergehen freilich noch mehrere Jahrzehnte. Wie Mathildes Geburtsort Wüsting über einen Eisenbahn-Anschluss zu verfügen, ist also durchaus ein Standortvorteil. Dasselbe gilt für Neuenwege: Weil Johann Heinen die Chance bekommt, im etwas näher an Oldenburg gelegenen Nachbarort die Stationsleitung zu übernehmen, zieht die Familie 1901 nach dorthin um. Das erfordert einen Schulwechsel, doch mit ihrem neuen Lehrer an der Volksschule Neuenwege kommt Mathilde eigenen Erzählungen zufolge gut zurecht. Häufig besucht sie ihn nach dem Unterricht zu Hause und beaufsichtigt dann dessen jüngste Tochter.
In Neuenwege hat Mathildes von ihr rückblickend als sehr streng beschriebener Vater ein größeres Grundstück gekauft und darauf ein Zweifamilienhaus errichtet. Dort bleibt Mathilde nach Schulabschluss und Konfirmation zunächst weiter wohnen und hilft sowohl im Haushalt als auch im Garten bei allen anfallenden Arbeiten. Kurz nach ihrem 18. Geburtstag – der sie anders als heutzutage noch nicht volljährig macht – antwortet sie ohne Wissen des Vaters auf die Stellenanzeige eines Wäsche-Fachgeschäfts in der Oldenburger Schüttingstraße. Gesucht wird ein Hausmädchen, und obwohl es eine ganze Reihe von Mitbewerberinnen gibt, fällt die Wahl auf Mathilde. Bei ihrem Arbeitgeber lernt sie unter anderem die Weißnäherei. Später hilft sie auch als Verkäuferin aus.
Irgendwann in der Jugendlichen damals zugestandenen kargen Freizeit trifft Mathilde ihren künftigen Ehemann August König. Der Ort und die näheren Umstände dieser Begegnung liegen heute im Dunkeln, doch ihren Kindern gegenüber spricht Mathilde später von Liebe auf den ersten Blick. August ist zwölf Jahre älter als sie und stammt aus Osternburg, wo sein zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbener Vater als Heuermann gearbeitet hat. Er selbst verdient seinen Lebensunterhalt als selbstständiger Bierverleger.
Mathilde und August heiraten am 4. Juni 1910. Eine Aussteuer erhält Mathilde dafür der Überlieferung zufolge nicht. Das junge Paar, das sich nach der Hochzeit von den eigenen Ersparnissen eine kleine Wohnung in der Haarenstraße einrichtet, muss also sorgsam haushalten – zumal es nicht lange allein bleibt: Im Februar 1911 kommt der erste, auf den Namen Hans getaufte Sohn zur Welt. Ihm folgen im Juli 1912 und im November 1913 die weiteren Söhne Benno und August Junior.
Der im Sommer 1914 nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Ehefrau Sophie ausbrechende Erste Weltkrieg wirbelt wie in Millionen anderen Familien auch die Lebensplanung von Mathilde und August durcheinander. Zwar wird August, bei Kriegsausbruch 36 Jahre alt, nicht zur kaiserlichen Armee einberufen, und er kommt als dreifacher Familienvater glücklicherweise auch nicht auf die Idee, sich freiwillig zu melden. Auf sein Geschäft hat der Krieg allerdings massive Auswirkungen – der Bierumsatz bricht ein, und er muss den Vertrieb einstellen.
Nach der Geschäftsaufgabe bewerben sich sowohl August als auch Mathilde bei der Großherzoglich Oldenburgischen Eisenbahn, wo ihnen angesichts des kriegsbedingten Personalmangels sofort zwei Stellen angeboten werden. Mathilde tut fortan als Schrankenwärterin in Großenmeer bei Ovelgönne Dienst, August als Gleisarbeiter. Ihr neues Zuhause ist nun das Bahnwärterhaus in Großenmeer, zu dem neben einem großen Gemüsegarten auch ein Ziegenstall und ein Schweinekoben gehören. Aus alten Latten und ausgedienten Eisenbahnschwellen baut August später noch einen Hühnerstall.
Mit Artur bringt Mathilde im Mai 1915 ihren vierten Sohn zur Welt. Um die nunmehr sechsköpfige Familie zu versorgen, ist sie mittlerweile neben ihrer Arbeit für die Bahn fast rund um die Uhr im Einsatz. Kochen, Waschen, Tiere füttern, Gemüse säen und ernten sind neben der Beschäftigung mit vier noch nicht schulpflichtigen Kindern nur einige der Aufgaben, die regelmäßig anfallen und bei denen Ehemann August sie, wenn er nach einer Zehn-Stunden-Schicht nach Hause kommt, nur wenig unterstützen kann. In jeder freien Minute nimmt Mathilde darüber hinaus die Stricknadeln zur Hand und strickt für ihre Jungen im flackernden Licht der Petroleumlampe Hosen, Jacken, Socken und Unterwäsche. Die dafür nötige Wolle sowie andere zum Leben notwendige Dinge, die nicht im eigenen Garten sprießen, finanziert sie unter anderem durch den Verkauf von Eiern und Gemüse.
Damit er Mathilde bei Krankheit oder sonstiger Abwesenheit im Dienst vertreten kann, hat die Eisenbahndirektion August inzwischen zum Hilfswärter ernannt. Die nächste kurze Zwangspause deutet sich da bereits an, denn Mathilde ist erneut schwanger. Im Juli 1916 liegt sie zum ersten Mal mit einem Mädchen im Wochenbett, es erhält den Namen Lili. Mag die Freude darüber auch groß sein, der mit jedem weiteren Kriegsmonat trostlosere Alltag holt Mathilde schnell wieder ein. Die strikte britische Seeblockade und eine Kartoffel-Missernte machen die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln immer schwerer. Der berüchtigte Steckrüben-Winter bricht an, und im April 1917 erhält Deutschland mit den USA einen weiteren Kriegsgegner. Trotzdem dauert es noch bis zum November 1918, ehe der Waffenstillstand von Compiègne den ersehnten Frieden bringt.
Doch es ist ein anderer Friede, als ihn sich die meisten Deutschen vorgestellt haben. Zum einen wird er diktiert von den Siegermächten, die Gebietsabtretungen und hohe Reparationen fordern. Zum anderen sorgen Kaisersturz, Ausrufung der Republik und Putschversuche von links und rechts für Chaos und bürgerkriegsähnliche Zustände. Wirtschaftlich geht es zudem angesichts der rasant steigenden Inflation immer weiter bergab. Mathilde und August sind deshalb heilfroh, mit der 1920 gegründeten Reichsbahn einen halbwegs verlässlichen Arbeitgeber an ihrer Seite zu wissen und sich über ihre Tiere und den Gemüsegarten zu einem Großteil selbst versorgen zu können. Trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht, zumal mit der zweiten, später von allen nur Tilly gerufenen Tochter Mathilde Gesine (Juli 1919) und im März 1922 mit Wilma noch zwei Kinder hinzukommen. In der allgemeinen Not nimmt Mathilde eine Heimarbeit an und näht Herrenhemden. Eine mehr schlecht als recht entlohnte Beschäftigung, die gleichwohl viel Zeit bindet.
Die Ende 1923 eingeführte Rentenmark stabilisiert die wirtschaftliche Lage ein wenig. In eher landwirtschaftlich geprägten Gebieten wie dem Freistaat Oldenburg bleibt sie jedoch auch in den folgenden Jahren angespannt. Kurz nach der Geburt der vierten Tochter Luise im Januar 1926 schließt die Reichsbahn aus Rentabilitätsgründen die Station Großenmeer. Mathilde und August werden daraufhin in den zwölf Kilometer nordöstlich gelegenen, heute zu Brake gehörenden Nachbarort Meyershof versetzt, wo sie eine ihrem bisherigen Domizil vergleichbare Dienstwohnung beziehen.
In Meyershof besuchen Benno, August, Artur, Lili und Tilly die nahe gelegene Volksschule. Der älteste Sohn Hans hingegen hat die Schule bereits abgeschlossen und beginnt in Strückhausen eine Malerlehre. Dort sind zwar in erster Linie handwerkliche Fähigkeiten gefragt. Daneben verfügt Hans den späteren Aufzeichnungen seiner Schwester Tilly zufolge jedoch auch über eine bemerkenswerte künstlerische Begabung, die sie auf verwandtschaftliche Verbindungen zurückführt: Catharine Röver, die Großmutter des in Lintel geborenen und in Paris zu Ruhm gekommenen Künstlers Heinz Witte-Lenoir, ist eine Tante von Mathildes Mutter.
Während der zweitälteste Sohn Benno eine Lehre als Klempner und Elektriker beginnt, wird Mathilde noch ein letztes Mal schwanger. Im Mai 1928 kommt dann das Nesthäkchen Egon zur Welt. Der folgende Winter bringt extreme Kälte, in manchen Nächten fällt das Thermometer auf minus 30 Grad. Da die Schlafzimmer des lediglich mit einer Einfachverglasung ausgestatteten Bahnwärterhauses nicht beheizbar sind, wärmt Mathilde alle Betten mit zuvor auf der Herdplatte erhitzten Ziegelsteinen an.
Trotzdem bleibt es nicht aus, dass eines der Kinder an Keuchhusten erkrankt und das dafür verantwortliche Bakterium die Runde macht. Alle Kinder sind mehr oder weniger betroffen, wobei es die dreijährige Luise am härtesten erwischt: Sie liegt mit einer doppelseitigen Lungenentzündung danieder. Der behandelnde Arzt spricht gar von einer Lungenpest und macht den Eltern wenig Hoffnung auf Genesung. Als die Situation sich weiter verschlimmert und Luise ins Krankenhaus muss, ist Mathilde nach nicht enden wollenden schlaflosen Nächten mit ihrer Kraft am Ende und weiß sich nur noch durch Stoßgebete zu helfen. Sie werden offenbar erhört – Luise übersteht die lebensgefährliche Erkrankung.
Die auch wirtschaftlich wieder schwieriger werdende Zeit hält für Mathildes Familie jedoch noch mehr Prüfungen bereit. Der älteste Sohn Hans, mittlerweile im ersten Gesellenjahr, muss mit dem Verdacht auf Blinddarmentzündung ins Hospital, wo er nach der Operation mehrere Tage mit zehn Personen in einem Saal verbringt. Doch auch nach der Entlassung bessert sich sein Zustand nicht. Am Ende steht die Diagnose Lungentuberkulose. War am Ende gar nicht der Blinddarm Ursache seiner Beschwerden? Oder hat Hans sich im Krankensaal infiziert? Mathilde wird es nie erfahren, muss aber schon bald der Tatsache ins Auge sehen, dass für ihn wohl jede Hilfe zu spät kommt. Damit nicht genug: Auch die 13-jährige Tochter Lili hat sich – vermutlich beim gemeinsamen Musizieren mit Hans – angesteckt, sie muss in die Lungenheilstätte nach Wildeshausen. Dort stirbt sie im Juni 1930, einen Monat vor ihrem 14. Geburtstag und zehn Monate vor dem geliebten Bruder.
Für Mathilde zwei kurz aufeinander folgende Schicksalsschläge, die ihr viel Energie und Selbstbeherrschung abfordern. Denn das Leben geht weiter, sie muss funktionieren und den sieben verbliebenen Kindern Halt geben – komme noch, was da wolle. Und es kommt tatsächlich noch eine ganze Menge, denn die aus den USA herüberschwappende Weltwirtschaftskrise zieht immer weitere Kreise. Davon profitieren in erster Linie die Nationalsozialisten, die bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 mit einem Stimmenanteil von 37,3 Prozent zur stärksten politischen Kraft aufsteigen. Im Januar 1933 ernennt daraufhin Reichspräsident Paul von Hindenburg deren Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler.
Weil die Reichsbahn die Station Meyershof aufgrund von Sparmaßnahmen kurz zuvor aufgelöst hat, lebt Mathilde bei Hitlers Machtübernahme schon seit einigen Monaten in Lintel. Dort hat sie mit ihrer Familie einmal mehr ein Bahnwärterhaus bezogen und versieht den Schrankendienst, während Ehemann August zunächst weiter als Gleisarbeiter tätig ist und später zu Mathildes ständigem Stellvertreter befördert wird.
Im Juni 1935 feiern Mathilde und August Silberhochzeit. Da mittlerweile mit Wilma, Luise und Egon nur noch drei Kinder im elterlichen Haushalt leben, gestaltet sich Mathildes Arbeitstag um einiges entspannter als in den Jahren zuvor. Das Nähen und Handarbeiten entwickelt sich von einer die wirtschaftliche Existenz sichernden Notwendigkeit zu einem Hobby, dem sie gern und häufig nachgeht. Mit der im NS-Staat etablierten Massenorganisation Kraft durch Freude unternimmt Mathilde zudem den ersten größeren Ausflug ihres Lebens, er führt sie in den Tierpark Hagenbeck nach Hamburg. Aus der im Olympia-Jahr 1936 geschlossenen Ehe von Sohn Benno mit Minna Rasch aus Tweelbäke geht ein Jahr später die erste Enkeltochter Altraud hervor.
Im September 1939 beenden der deutsche Überfall auf Polen und der dadurch ausgelöste Zweite Weltkrieg diese vergleichsweise sorglose Zeit. Von den Söhnen erhält als erstes Artur einen Stellungsbefehl. Fast zeitgleich, am 1. Oktober 1939, bekommt Mathilde das von Adolf Hitler gestiftete Ehrenkreuz der Deutschen Mutter verliehen. Aus heutiger Sicht eine Perversion sondergleichen: Schenke dem Führer möglichst viele Kinder, damit dieser sie in den Krieg schicken kann!
Im Juli 1940 heiratet Tochter Tilly Erich Walcher aus Graz, ihren Vorgesetzten bei der Oldenburger Regionalvertretung der Organisation Todt. Tillys und Erichs im Februar 1941 in Graz geborenem Sohn Erich Junior folgen mit Irmtraut (Februar 1943) und Gerlinde (Mai 1944) aus dieser Linie noch zwei weitere Enkelkinder. Dazwischen liegt ein für Mathilde äußerst schmerzhafter Verlust: Im März 1941 stirbt Ehemann August im Alter von 63 Jahren an einer Lungenentzündung.
Weil in der Zwischenzeit auch die beiden jüngsten Töchter Wilma und Luise das Elternhaus verlassen haben, hat Mathilde fortan im mitten im Wald gelegenen Linteler Bahnwärterhaus nur noch den jüngsten Sohn Egon um sich – und schwebt mit zunehmender Kriegsdauer ständig in Gefahr, Ziel eines Tieffliegerangriffs oder eines nächtlichen Bombenabwurfs zu werden. Eine Gefahr, die freilich auch allen umliegenden Nachbarn droht. Dass Mathildes Gedanken dabei viel häufiger um das Leben ihrer erwachsenen Söhne kreisen – von ihnen ist nur der Älteste Benno als Mitarbeiter der Reichsbahn unabkömmlich gestellt – als um die eigene Sicherheit, versteht sich von selbst. Durchaus zu Recht: Artur, auf einem Versorgungsschiff im Mittelmeer eingesetzt, übersteht nur mit viel Glück einen Fliegerangriff, der sämtliche Kameraden das Leben kostet.
Im Herbst 1943 erreicht Mathilde die Hiobsbotschaft, dass August Junior nach einer schweren Verwundung in Jägerndorf im Lazarett liegt und dass ihm dort der rechte Arm amputiert werden musste. Ein schwerer Eingriff, von dessen Folgen ihr Drittgeborener sich nicht mehr erholt: Er stirbt im Februar 1944. Anfang November desselben Jahres trifft es dann bei einem der zahlreichen Bombenangriffe auf Graz Schwiegersohn Erich Walcher. Tochter Tilly und die drei Kinder sind zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise nicht mehr in der Stadt, sondern zu Tillys Schwiegereltern in Bad Aussee ausquartiert.
In der Flut der schlechten Nachrichten gehen die hoffnungsvollen Ereignisse wie die Hochzeit von Tochter Wilma mit Hans Klattenhoff aus Langenberg im Sommer 1944 beinahe unter. Dann ist der Krieg vorbei. Wie Mathilde das Kriegsende in Lintel konkret erlebt, ist nicht überliefert. Dass für sie auch die folgenden Monate alles andere als einfach sind, steht jedoch außer Frage. Im Mai 1946 zieht Tilly mit ihren drei Kindern wieder im Bahnwärterhaus in Lintel ein. Als Deutsche ist sie in Österreich nicht mehr gern gesehen, erhält aber als Witwe eines im Krieg umgekommenen Österreichers in Deutschland keine Rente und auch keine Arbeit. Im Frühjahr 1948 kehrt sie deshalb mit ihren Kindern wieder zu den Schwiegereltern nach Bad Aussee zurück. Zwei Monate nach der im Juni 1948 vollzogenen Währungsreform heiratet die jüngste Tochter Luise Günter Schepker aus Hude.
Im darauffolgenden Jahr wird Mathilde von der Bahn nach 35 Jahren aus dem Dienst entlassen – so wie auch an vielen anderen Stellen Frauen ihre Arbeitsstellen an aus dem Krieg heimkehrende Männer abtreten müssen. Mathilde fügt sich und bezieht nach dem Auszug aus dem kurz danach abgerissenen Linteler Bahnwärterhaus bei Tochter Wilma und Schwiegersohn Hans in Langenberg eine kleine, für sie eingerichtete Einliegerwohnung. Dort hilft sie in Haushalt und Garten und später bei der Betreuung der Enkelkinder Hildburg und Hans Junior.
Mag Mathilde anfangs über den wenig respektvollen Umgang der frisch aus der Taufe gehobenen Bundesrepublik Deutschland mit ihrer nach wie vor vorhandenen Schaffenskraft auch enttäuscht sein, so weiß sie doch recht bald die Vorzüge des neuen Lebens als Ruheständlerin zu schätzen. Zu ihrer bevorzugten Freizeitbeschäftigung gehört nach wie vor das Nähen, was der wachsenden Enkelschar zugutekommt. Und sie reist – mit Sohn Benno etwa nach Bonn zu ihrer Schwägerin Lina, einer Schwester ihres verstorbenen Ehemannes. Die weiteste, ebenfalls in Begleitung von Benno unternommene Reise führt Mathilde zu Tilly nach Bad Aussee, wo sie mit der Seilbahn auf den Krippenstein fährt und sich vom Blick über die oberösterreichische Bergwelt begeistert zeigt.
Schwiegersohn Hans, mit einem Betonsteinwerk beruflich sehr erfolgreich, erweitert Ende der 1960er Jahre seinen Betrieb und errichtet nebenher auch ein neues Eigenheim. Dadurch vergrößert sich die Fläche des Mathilde zur Verfügung stehenden Wohnraums, was sie unter anderem zur Anschaffung von Wellensittichen nutzt. Doch es gibt in ihrem neuen Lebensabschnitt nach wie vor auch traurige Momente. Im April 1972 stirbt Bennos Ehefrau Minna, im Oktober 1974 – wenige Monate nach Mathildes 85. Geburtstag – Sohn Artur.
Anfang 1979 übergibt Hans Klattenhoff sein Betonsteinwerk an die Kinder und zieht mit Wilma und Mathilde nach Hude in ein Haus an der Glatzer Straße. Dort hat Mathilde keine eigene Küche mehr zur Verfügung, was für sie anfangs stark gewöhnungsbedürftig ist. Ihren wenige Monate später anstehenden 90. Geburtstag feiert sie bei guter Gesundheit, lediglich getrübt durch eine leichte Schwerhörigkeit. Über Weihnachten 1982 beginnt Mathilde dann allerdings zu kränkeln, erholt sich nur langsam und findet auch nicht mehr zu alter Vitalität zurück. Sie stirbt am 22. September 1983 und wird fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.