Diedrich Runge – Biographie

Diedrich Wilhelm Runge wird am 3. September 1870 als erstes Kind von Johann Hinrich Runge und Anna Gesine Runge auf dem elterlichen Hof in Lintel (heute: Hartwig Kück) geboren. Er ist der ältere Bruder von Aline Hoffrogge, Gesine Mathilde Runge, Karl Runge, Johanne Gesine Runge, Gesine Mönning und Bertha Schmidt.

Zwei Tage vor Diedrichs Geburt beginnt die Schlacht von Sedan und bringt eine Vorentscheidung im sechs Wochen zuvor ausgebrochenen Deutsch-Französischen Krieg. Dabei stehen 130.000 französische Soldaten rund 200.000 Soldaten der vereinten Truppen des Norddeutschen Bundes sowie von Bayern, Baden und Württemberg gegenüber. Vom Kräfteverhältnis her eine klare Sache für die vom preußischen General Helmuth von Moltke befehligten deutschen Armeen, die im August bereits die Schlachten bei Weißenburg, Wörth, Spichern und Gravelotte für sich entschieden haben. Dabei sind sie weit in Feindesland eingedrungen und versuchen nun, den überwiegend aus Reservisten bestehenden Streitkräften des französischen Oberbefehlshabers Patrice de Mac-Mahon den Rückzug Richtung Paris abzuschneiden.

Trotz des rechnerischen Vorteils sieht es anfangs nicht nach einem glorreichen deutschen Sieg aus. Bei der versuchten Einnahme des Dorfes Bazeilles in den frühen Morgenstunden des 1. September 1870 etwa stößt die Erste Königlich Bayerische Division auf unerwartet starken Widerstand. In der Folge entwickelt sich einer der ersten modernen Häuserkämpfe der Militärgeschichte. Ihn entscheiden die Angreifer um die Mittagszeit herum für sich, wenn auch unter hohen Verlusten. Im weiteren Verlauf des Kampfes spielt ihnen in die Karten, dass Mac-Mahon schon zu Beginn der Schlacht durch einen Granatsplitter schwer verletzt wird und das Oberkommando abgeben muss: Die unklare Befehlslage und ein Kompetenz-Gerangel zwischen den Generälen Auguste-Alexandre Ducrot und Emanuel Félix de Wimpffen trägt entscheidend zur sich am Nachmittag abzeichnenden französischen Niederlage bei.

Einer abendlichen Waffenruhe folgt ein erstes Kapitulationsangebot. Über die konkreten Bedingungen verhandeln Delegationen beider Seiten bis in die Nacht hinein. Mit Moltkes Drohung im Rücken, die Waffenruhe jederzeit beenden zu können, bleibt den Franzosen allerdings wenig Spielraum. Ein am 2. September um 7 Uhr morgens tagender Kriegsrat sieht keine Alternative zur deutschen Forderung, sich nach der Aufgabe geschlossen in deutsche Gefangenschaft zu begeben. Das entsprechende Dokument unterzeichnet General de Wimpffen um 11 Uhr. Betroffen davon ist auch Frankreichs auf dem Schlachtfeld anwesender Kaiser Napoleon III. – er wird als persönlicher Gefangener des preußischen Königs Wilhelm I. nach Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel gebracht.

Sind die sich an der Front überschlagenden Ereignisse zum Zeitpunkt von Diedrichs Geburt in Lintel bereits bekannt? Sehr wahrscheinlich nicht. Die „Nachrichten für Stadt und Land“, damals die führende Tageszeitung im Großherzogtum Oldenburg, etwa berichtet erst in ihrer Ausgabe vom 4. September davon. Danach dürfte sich die Kunde jedoch rasch bis in den letzten Winkel des Dorfes verbreiten und entsprechend positiv aufgenommen werden. Die Anteilnahme am Kriegsgeschehen wird schon deshalb groß sein, weil mindestens ein Linteler an den Kämpfen in Nordfrankreich beteiligt ist – Hermann Heinrich Witte, Vater des später in Paris zu einiger Berühmtheit gelangten Künstlers Heinz Witte-Lenoir. Möglicherweise sind im September 1870 aber noch weitere Dorfbewohner als Mitglied des Oldenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 91 oder des Oldenburgischen Dragoner-Regiments Nr. 19 vor Ort.

Der Deutsch-Französische Krieg, in dessen Schlussphase die deutschen Fürsten Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser ausrufen, taugt in Diedrichs Kinder- und Jugendjahren und auch darüber hinaus noch so manches Mal als Gesprächsthema. So geht es jedenfalls aus den Erinnerungen des 1897 geborenen Lintelers Johann Geerken hervor. Einmal im Jahr – jeweils am 2. September – werden sie zudem durch den Sedantag ins Gedächtnis gerufen, der mit Sicherheit auch in der Volksschule Lintel mit einer für die damalige Zeit typischen Mischung aus Pathos und Andacht begangen wird. Die gemeinsam mit dem Nachbardorf Hurrel betriebene Schule besucht Diedrich sehr wahrscheinlich von Frühjahr 1877 an. Zu seinen in etwa gleichaltrigen Schulkameraden gehören dabei unter anderem Carl Ahlers, Johann Diedrich Busch, Bernhard Haverkamp, Georg Haverkamp, Diedrich Heinemann, Hermann Janzen, Bernhard Schwarting, Johann Friedrich Wachtendorf und Christian Hinrich Wefer.

Noch bevor Diedrich die erste Klasse beendet, gibt es in seiner Familie zwei Trauerfälle. Am 24. März 1878 stirbt die vier Jahre jüngere Schwester Gesine Mathilde, am 3. April 1878 dann der 1876 geborene Bruder Karl. Als Todesursache nennt das Kirchenbuch der Gemeinde Hude in beiden Fällen „Krämpfe“. Über die Hintergründe lässt sich nur mutmaßen. Eine Darmerkrankung mit Durchfall, Erbrechen und dadurch ausgelöstem Mineralienmangel kann ebenso die Ursache sein wie Wundstarrkrampf, Tollwut oder eine Meningitis. Der geringe Abstand zwischen den Todesfällen spricht jedoch für eine von Mensch zu Mensch übertragbare Infektionskrankheit. Nicht ausgeschlossen, dass auch Diedrich und die älteste Tochter Aline davon betroffen sind – der Seuche aber mehr Widerstandskraft entgegenzusetzen haben als die beiden jüngsten Familienmitglieder.

Auch der im April 1879 hinzukommenden Schwester Johanne Gesine ist kein langes Leben beschieden. Sie stirbt kurz vor Heiligabend des Jahres 1881 und damit nur wenige Wochen vor der Geburt der nächsten Schwester Gesine. Über die Ursache schweigt sich das Kirchenbuch aus. Mit der Geburt von Bertha im April 1884 ist die Familie dann komplett.

Diedrich und seine drei überlebenden Schwestern wachsen auf einem Hof auf, den ihr aus Hude stammender und nebenbei als Schuhmacher arbeitender Großvater Dierk Runge 1835 übernommen hat. Weil die dazugehörigen Ländereien vergleichsweise klein sind, verdient sich auch Vater Johann Hinrich als Musiker auf Hochzeiten und anderen Festivitäten noch etwas Geld hinzu. Bis zu seinem plötzlichen Tod im Februar 1887: Bei einer Feier im späteren „Haus am Bahnhof“ in Hude stürzt er so unglücklich von einer Treppe, dass er noch in derselben Nacht stirbt.

Eine Tragödie für die ganze Familie – menschlich natürlich, aber auch finanziell. Gerade 16 Jahre alt, muss Diedrich die Rolle des männlichen Oberhaupts und Alleinverdieners ausfüllen. Wobei der Verdienst anfangs fast ausschließlich aus der Landwirtschaft stammt, in die auch Mutter Anna Gesine und die drei Schwestern involviert sind. Später kommt etwas zusätzliches Geld ins Haus, indem die zwischenzeitlich zur Wohnstube umfunktionierte Werkstatt des 1870 verstorbenen Großvaters an einen anderen im Dorf ansässigen Schuhmacher vermietet wird.

Wo Diedrich in jenen schweren Jahren seine künftige Ehefrau Gesine Schmidt aus Tweelbäke kennenlernt, ist nicht überliefert. Vielleicht ist Gesine um die Jahrhundertwende irgendwo in der Nachbarschaft in Stellung, vielleicht laufen sich beide aber auch auf einer Tanzveranstaltung in der näheren Umgebung über den Weg. Vor den Traualtar der St.-Elisabeth-Kirche in Hude treten sie am 26. Juni 1903. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehen aus der Ehe drei Kinder hervor: Heinrich (August 1904), Alwine (Dezember 1905) und Frieda (Oktober 1910).

Als am 1. August 1914 in ganz Europa einem später berühmt gewordenen Zitat des britischen Außenministers Edward Grey zufolge „die Lichter ausgehen“, steht Diedrich kurz vor seinem 44. Geburtstag. Zu alt für einen Kriegseinsatz? Keinesfalls, wie diverse Beispiele aus Lintel und den umliegenden Dörfern nahelegen. Aufgrund des frühen Todes des Vaters und seiner Unabkömmlichkeit in der Landwirtschaft wird er jedoch Informationen aus der Familie zufolge nicht einberufen und verspürt offenbar auch wenig Drang, sich freiwillig zum Waffendienst zu melden. Somit erlebt er nicht nur im September 1915 die Geburt seines vierten Kindes Emma im Kreis der Familie, sondern auch die nach dem Kriegseintritt der USA unabwendbar gewordene Niederlage des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten drei Jahre später.

Wie Diedrich, Gesine, die vier Kinder und seine bei der Abdankung von Kaiser Wilhelm II. und der Ausrufung der Weimarer Republik im November 1918 kurz vor ihrem 71. Geburtstag stehende Mutter den politisch und wirtschaftlich mehr als holprigen Start der neuen Staatsform erleben, ist ebenfalls nicht überliefert. Spartakus-Aufstand, Kapp-Putsch, Hyperinflation und dem von Adolf Hitler angeführten Marsch auf die Feldherrnhalle folgt bald nach dem Tod von Anna Gesine Runge im Mai 1928 die Weltwirtschaftskrise, an deren Folgen die Republik schließlich zerbricht: Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und das kurz darauf vom Reichstag beschlossene Ermächtigungsgesetz ebnen 1933 den Weg in den NS-Staat.

Am 6. April 1934 stirbt, gerade einmal 60 Jahre alt, Ehefrau Gesine an einer Herzschwäche. Zu diesem Zeitpunkt leben alle vier Kinder noch auf dem Hof. Zur traditionellen Acker- und Viehwirtschaft auf knapp zehn Hektar Land ist inzwischen die Bienenzucht hinzugekommen, auf die sich Hoferbe Heinrich in den folgenden Jahren stark spezialisiert. Tochter Frieda heiratet kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs Klaus Kück aus Karlshöfenermoor bei Osterholz-Scharmbeck – bleibt aber mit dem im Januar 1940 geborenen Sohn Hartwig weiter in Lintel wohnen.

Anders als Diedrichs Schwiegersohn gilt Heinrich Runge als unabkömmlich und wird nicht zur Wehrmacht eingezogen. Im vorletzten Kriegsjahr gibt es dennoch einen Verlust zu beklagen: Am 10. April 1944 stirbt Frieda Kück an Tuberkulose. Ehemann Klaus überlebt zwar, kehrt allerdings erst mehr als drei Jahre später aus sowjetischer Gefangenschaft zurück. Nach der Hochzeit mit Minna Vosteen verlässt er Anfang der 1950er Jahre Lintel Richtung Kirchkimmen. Hartwig Kück hingegen bleibt auf dem Runge-Hof, weiterhin gut behütet von Diedrich und seinen drei unverheirateten Kindern. Zwei von ihnen treten schließlich doch noch in den Stand der Ehe: Heinrich Runge heiratet im Juli 1956 Nachbarin Herta Kläner, Schwester Emma im September 1957 Emil Schwarting aus Hude.

Diedrich selbst arbeitet bis ins hohe Alter auf dem von Sohn Heinrich und dessen potentiellem Erben Hartwig bewirtschafteten Hof mit. Letzterer erinnert sich, dass der Großvater meist die Pferde versorgt und viel mit der Sense unterwegs ist – dabei aber auch seine regelmäßigen Ruhepausen benötigt. Die wiederum findet er auf einem eigens zu diesem Zweck in der Küche aufgestellten Sofa.

Diedrich stirbt am 14. November 1959 im Alter von 89 Jahren. Beerdigt ist er drei Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.