Hermann Diedrich Witte wird am 11. Dezember 1837 als erstes Kind von Johann Dierk Witte und Gesche Witte in Lintel geboren. Er ist der ältere Bruder von Hinrich Witte, Catharina Elise Meyer, Mette Gesine Esmann und Anna Margarete Becker. Eine weitere, am 10. April 1845 geborene und verstorbene Schwester bleibt namenlos.
Am Tag von Hermann Diedrichs Geburt kommt es in der westfälischen Provinz-Hauptstadt Münster zu tumultartigen Szenen. Am Nachmittag rotten sich mehrere hundert Einwohner zusammen und attackieren auf dem Domplatz exerzierende Soldaten unter wüsten Beschimpfungen mit aus dem Straßenpflaster gerissenen Steinen. Als es der hinzugerufenen Polizei nicht gelingt, für Ruhe zu sorgen, lässt Divisionskommandant Friedrich von Wrangel die aufgebrachte Menge von berittenen Husaren auseinandertreiben. Dabei gibt es laut historischen Quellen diverse Verletzte durch Säbelhiebe. Gegenüber Oberbürgermeister Joseph von Münstermann und dem Stadtrat droht Wrangel anschließend mit dem Einsatz von Kanonen, sollte sich am folgenden Tag Vergleichbares wiederholen. Kombiniert mit einem strikt kontrollierten Versammlungsverbot beruhigt das die Gemüter: Für den 12. Dezember verzeichnen die Ordnungshüter keine nennenswerten Vorfälle mehr.
Ein erster Vorgeschmack auf die Märzrevolution von 1848? Ja und nein. Nein, weil die Revolte in erster Linie religiös bedingt ist. Westfalen und die gleichfalls katholisch geprägte Nachbar-Provinz Rheinland gehören seit 1815 zum evangelisch dominierten Königreich Preußen. Dabei prallen in vielen Bereichen des Alltagslebens Welten aufeinander. Etwa beim Eherecht: Finden Partner unterschiedlicher Konfession zueinander, gilt in Preußen die von König Friedrich Wilhelm III. erlassene Regel, dass die Kinder nach dem Bekenntnis des Vaters erzogen werden sollen. Demgegenüber nötigt das kanonische Recht der katholischen Kirche Brautpaaren vor der Trauung das gemeinsame Versprechen ab, ihre Kinder katholisch taufen und erziehen zu lassen.
Ein Konflikt, in dem zunächst die weltliche Seite die Oberhand behält. Bis sich der 1835 neu ins Amt gekommene Kölner Erzbischof Clemens August Droste querstellt. Er besteht für seine Diözese auf die katholische Lesart, woraufhin Friedrich Wilhelm ihn zunächst zum Rücktritt auffordert und dann am 14. November 1837 für abgesetzt erklärt. Weil Droste dies nicht akzeptiert, lässt der König ihn sechs Tage später verhaften und in die Festung Minden bringen. In Köln bleibt es danach relativ ruhig, doch in Drostes Geburtsstadt Münster kocht Empörung hoch und bricht sich auf die beschriebene Art und Weise Bahn.
Zwar ist Friedrich Wilhelm in der Folge gezwungen, auf die katholische Kirche zuzugehen und einige Zugeständnisse zu machen. Droste kommt gleichwohl erst im April 1839 wieder auf freien Fuß, und auf seinen Posten zurückkehren darf er nicht. Die Kontroverse um seine Person ebnet nach Meinung vieler Historiker dem politischen Katholizismus den Weg – und zeigt nebenbei, dass eine wachsende Zahl von Bürgern nicht länger gewillt ist, sich von der Obrigkeit alles gefallen zu lassen.
Im südlichen Teil des Großherzogtums Oldenburg dürften die Verhaftung des Kölner Erzbischofs und die Krawalle von Münster ein wichtiges Gesprächsthema sein, in rein evangelisch besiedelten Dörfern wie Lintel eher nicht. Dass irgendjemand in Hermann Diedrichs Familie überhaupt Kenntnis davon erlangt, ist ohnehin wenig wahrscheinlich. Doch so ganz genau vermag das knapp 190 Jahre später natürlich niemand mehr zu sagen. Wie auch? Schließlich steht nicht einmal fest, wo genau in Lintel Hermann Diedrich das Licht der Welt erblickt. Ist es ein Heuerhaus auf dem Besitz jenes längst abgebrochenen Hofes, den Walter Janßen-Holldiek in seiner Dorfchronik als „Marcus‘ Hus“ bezeichnet und (ohne seine genaue Lage zu benennen) unter der laufenden Nummer 20 führt?
Für diese Annahme spricht, dass in besagtem Heuerhaus bereits Hermann Diedrichs Großvater Marcus Witte heimisch war – mutmaßlich wie der im Seelenregister von 1799 unter der Nummer 24 aufgeführte Hofbesitzer Tönjes Hinrich Witte ein Nachfahr des Hofgründers Marcus Hinrich Witte. Während in der einen Linie der Hof vererbt wurde, blieb der anderen nur ein Dasein als Heuerling, verbunden mit der Ausübung eines handwerklichen Berufs. Das 1799 vom Huder Pastor Nicolaus Wierich Hüpers erstellte Seelenregister führt Marcus Witte als Schneider. Denselben Beruf übt neben seinen Pflichten als Heuerling auch Hermann Diedrichs Vater aus. Mutter Gesche wiederum stammt vom heutigen Besitz von Guido und Susanne Einemann, wo Hermann Diedrichs zweiter Großvater Harm Hinrich Schütte bis zu seinem Tod 1818 eine Schmiede betrieben hat. Seine Großmutter aus diesem Zweig der Familie lernt Hermann Diedrich ebenfalls nicht mehr kennen, Ahlke Margarete Schütte hat ihren Ehemann nur um knapp zehn Jahre überlebt.
Hermann Diedrichs Geburt wird vom Tod der verbliebenen Großmutter Catrine Elisabeth Witte überschattet. Die Ehefrau von Marcus Witte (er selbst lebt noch bis 1845) ist am 27. Oktober 1837 verstorben, also nur sechs Wochen zuvor. Im Februar 1838 stirbt auch Tönjes Hinrich Witte Junior, seit 1821 mit einer kurzen Unterbrechung Eigentümer des Witte-Hofes. Ihn beerbt dessen erst knapp vierjähriger Sohn Hermann Witte, der 1871 den heutigen Hof von Rainer und Anne Witte kaufen und daraufhin den angestammten Siedlungsplatz – wo auch immer er gelegen haben mag – aufgeben wird. Doch so weit ist es 1838 noch lange nicht, und vermutlich verbringt Hermann Diedrich den Großteil seiner Kinder- und Jugendjahre an diesem geheimnisvollen Ort.
Sehr wahrscheinlich von Frühjahr 1844 an besucht Hermann Diedrich die gemeinsam mit dem Nachbardorf Hurrel betriebene Volksschule Lintel, wo unter anderem Hermann Barkemeyer, Röbe Haverkamp, Hermann Heyne, Gerhard Hinrich Stolle, Johann Heinrich Tönjes und Diedrich Wübbenhorst zu den in etwa gleichaltrigen Mitschülern gehören. Nach Schulabschluss und Konfirmation schlägt Hermann Diedrich die sowohl von seinem Vater als auch seinem Großvater vorgezeichnete Laufbahn ein: Er hilft als Heuerling bei der Ernte und erlernt nebenher das Schneiderhandwerk. Vermutlich arbeiten Vater und Sohn dabei über weite Strecken Hand in Hand.
Wo und wann Hermann Diedrich seine künftige Ehefrau kennenlernt, liegt heute im Dunkeln. Anna Lüning ist im Revolutionsjahr 1849 als Halbwaise zur Welt gekommen und Grunderbin einer am Postweg in Vielstedt gelegenen Brinksitzerei (heute: Gunda und Walter Schierenberg). Aufgewachsen ist sie dort mit ihrer 1866 verstorbenen Mutter Margarete Elisabeth, Schwester Gesine Elise, Stiefvater Gerhard Lange und drei Halbschwestern.
Hermann Diedrich und Anna heiraten am 1. November 1870, mitten im Deutsch-Französischen Krieg und anderthalb Jahre nach dem Tod von Vater Johann Dierk in Lintel. Für den Bräutigam ein Aufstieg, erhält er doch durch die Heirat erstmals Grundbesitz. Gleichwohl arbeitet er weiter in seinem erlernten Beruf. Der diesbezügliche Eintrag ins Kirchenbuch der Gemeinde Hude bei der Geburt des ersten Kindes Gesine Elise im Januar 1872 lautet „Brinksitzer und Schneidermeister in Vielstedt“.
Mit der Geburt der nächsten Kinder Metta (Dezember 1873), Anna Mathilde (Januar 1876), Louise (Dezember 1878), Hinrich (Januar 1881), Catharina (Oktober 1883) und Georg (September 1888) wird Hermann Diedrich noch sechs weitere Male Vater. Mutter Gesche, die nach der Hochzeit mit nach Vielstedt gezogen ist, stirbt im April 1875. Tochter Anna Mathilde wandert 1893 auf den Spuren ihrer Tante Metta Elise Lange nach Texas aus. Sieben Jahre nach der Geburt des jüngsten Sohnes Georg kommt dann im Februar 1895 Hermann Diedrichs erstes Enkelkind zur Welt: Mettas Sohn Hinrich aus der 1894 geschlossenen Ehe mit Johann Friedrich Wachtendorf aus Hurrel. Bis 1910 bereichern zehn weitere Enkelkinder – eines davon in den USA – die Familie.
Die Geburt des ersten auf seinem Hof aufwachsenden Enkelkindes, Hinrichs Tochter Alma, und den Tod von Sohn Georg im Ersten Weltkrieg erlebt Hermann Diedrich nicht mehr mit: Er stirbt am 16. Januar 1913, laut Kirchenbuch-Eintrag infolge Altersschwäche. Beerdigt ist er vier Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.