„Ich bin ein Mensch. Nichts Menschliches ist mir fremd.“
Publius Terentius Afer (195 – 159 vor Christus)
Wer als Außenstehender einen Blick auf die Linteler Gedächtnis-Seite wirft, kann schnell den Eindruck einer dörflichen Idylle bekommen. Die Linteler sind ohne Fehl und Tadel. Ihnen ist zwar im Lauf der Jahrhunderte viel Unheil widerfahren, aber alles Böse kam stets von außen und wurde von Dritten hervorgerufen.
Dieser Eindruck täuscht. In Lintel lebten und leben keine Heiligen. In der mutmaßlich 2.000-jährigen Geschichte des Dorfes haben sich zwischen einzelnen Bewohnern mit Sicherheit so manche Ereignisse abgespielt, die nicht recht zum vielstrapazierten Bild einer heilen Welt passen wollen. Einiges davon ließe sich benennen und zuordnen – weil zum Beispiel noch Zeitzeugen leben, die sich an die finsteren Jahre des Nationalsozialismus und den gewiss nicht immer freundlichen Umgang mit Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern können. Wobei es aber gerade aus dieser zweifellos dunkelsten Phase deutscher Geschichte auch positive Gegenbeispiele gibt. Hätte es sonst den ehemaligen französischen Kriegsgefangenen Lucien Frelin bis zu seinem Tod 2008 immer wieder nach Lintel gezogen, um jenem Hof einen Besuch abzustatten, auf dem er zwischen 1940 und 1945 dienstverpflichtet war?
Andere, manchem früheren Dorfbewohner nicht unbedingt zur Ehre gereichende Geschehnisse wiederum liegen schon so lange zurück, dass niemand mehr aus eigener Erfahrung Zeugnis darüber ablegen könnte. Etwa darüber, dass sehr wahrscheinlich auch in Lintel bis ins 20. Jahrhundert hinein Mägde von Männern aus ihrem persönlichen Umfeld bedrängt und bei einer späteren Schwangerschaft ihrem Schicksal überlassen worden sind. Die Strukturen in der dörflichen Landwirtschaft waren lange Zeit mindestens so patriarchal wie im heutigen Hollywood. Mit dem Unterschied, dass an eine öffentliche Me-Too-Debatte nicht zu denken war.
Was geschah in so einem Fall mit Magd und Kind? Immerhin war der Einfluss eines Pfarrers in seinem Kirchspiel damals noch so groß, dass manche dieser Beziehungen schließlich doch vor dem Traualtar landeten – was in jenen Konstellationen, in denen sich nicht der meist bereits verheiratete Dienstherr, sondern ein anderes Mitglied der Familie oder des Hausstandes als werdender Vater zu erkennen geben musste, sogar die Regel gewesen sein dürfte. Man(n) wusste dann plötzlich doch wieder, was sich gehört.
Abtreibung? Natürlich streng verboten und vermutlich dennoch auf den abenteuerlichsten Wegen, die man sich im Detail gar nicht vorstellen will, praktiziert. Mitunter so erfolgreich, dass die werdende Mutter – sofern sie die Prozedur überlebte – an eventuelle künftige Schwangerschaften keinen Gedanken mehr zu verschwenden brauchte.
Hatte letztlich alles nichts geholfen und das Kirchenbuch den zur Welt gebrachten Nachwuchs offiziell als unehelich dokumentiert, kam es ganz entscheidend darauf an, wie die Familie der Mutter mit dieser meist als Schande empfundenen Situation umging. Was aber in Lintel in einigen Fällen durchaus funktioniert haben dürfte. Besser vielleicht sogar als in nahegelegenen Großstädten wie Bremen oder Hamburg, wo – auch da darf man sich nichts vormachen – das Problem „Herr des Hauses bedrängt Dienstmädchen und nun ist das junge Ding ganz plötzlich schwanger“ über Jahrhunderte hinweg mindestens ebenso häufig aufgetreten ist wie auf dem platten Land.
Doch bleiben wir noch ein bisschen bei den eher typisch ländlichen Auswüchsen menschlicher Abgründe. Generationskonflikten etwa. Alter Bauer kann nicht loslassen, redet seinem allmählich selbst schon in die Jahre kommenden Nachfolger in jedes noch so kleine Detail hinein. In vergangenen Zeiten die Regel? Keineswegs. Aber bis heute etwas, das die Stimmung auf einem Hof nachhaltig vergiften kann.
Es geht jedoch auch genau anders herum. Der Hof ist übergeben, das sein Leben lang hart arbeitende Bauernpaar – oder der überlebende Teil davon – freut sich auf den verdienten Ruhestand. Und wird nach der Übergabe von der Familie des Erben an der kurzen Leine gehalten. Demut vor dem Alter, Dankbarkeit gar? Pustekuchen, der Platz auf dem Friedhof wartet schon. Hoffentlich nicht mehr allzu lange, Kost und Logis kosten schließlich.
Harte Worte, gewiss, und noch einmal: Ganz bestimmt nicht die Regel, in Lintel ebenso wenig wie anderswo. Aber eben doch etwas, von dem jeder, der auf dem Land lebt oder dort groß geworden ist, schon einmal irgendwann irgendwie gehört hat. Und sei es nur hinter vorgehaltener Hand und über drei Ecken.
Dann gibt es noch den Klassiker von der bösen Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes vom Tag des Einzugs an das Leben zur Hölle macht. Die Reaktion der dazugehörigen Männer darauf kann eine solche Konstellation entschärfen, sie kann aber auch zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Ein weites Feld.
Wer bekommt am Ende überhaupt den Hof? So klar die Antwort mit dem Verweis auf das in der Gemeinde Hude geltende Jüngstenrecht zunächst auch ist, so schwer fällt es den Beteiligten mitunter, sich mit den daraus ergebenden Realitäten zu arrangieren. Lebenslange Feindschaft unter Geschwistern muss nicht die zwangsläufige Folge sein, kann es aber – bis in die heutige Zeit. Und geht es nicht um den Hof, dann ums liebe Geld und manchmal auch schlicht ums Prinzip. Erbstreitigkeiten folgen selten logischen Regeln, das lernen angehende Anwälte schon im Grundstudium.
Nicht nur das Familienleben birgt Konfliktpotenzial. Auch manche Konstellation in der unmittelbaren Nachbarschaft hat das Zeug zum Minenfeld. Mit ganz ähnlichen Grundregeln, die Logik betreffend. Je länger ein Streit unter Nachbarn andauert, desto schwieriger wird es, die Fragen nach den Ursachen und dem eigentlich Schuldigen zu beantworten.
Welcher Linteler hat im gesellschaftlichen Miteinander Schuld auf sich geladen? Wer war ein guter und geachteter Mensch, wer eher das Gegenteil davon? In manchen Fällen fällt die Antwort leicht, in vielen anderen nicht. So mag eine Person in den Augen der eigenen Familie ein Tyrann gewesen sein, während Nachbarn und Freunde sie bis heute als rundum liebenswert beschreiben. Oder umgekehrt. Es gibt neben Schwarz und Weiß unendlich viele Grautöne, die letztlich das Wesen eines Menschen ausmachen. Eine Erkenntnis, die zum Beispiel auch davor bewahren sollte, in einem Alkoholiker automatisch eine gescheiterte Existenz zu sehen und in jeder regelmäßigen Kirchgängerin ein Vorbild.
Die oft unterschiedliche Wahrnehmung ist vermutlich einer der Gründe, warum Trauerreden seit jeher ganz eigenen Gesetzen gehorchen. Der wichtigste Grundsatz dabei geht zurück auf den griechischen Gelehrten Chilon von Sparta und lautet sinngemäß: Rede über Tote nichts Schlechtes. Was allein schon deshalb sinnvoll erscheint, weil Tote sich gegen üble Nachrede nicht wehren können.
Selbstverständlich beherzigen sämtliche auf der Linteler Gedächtnis-Seite veröffentlichten Biographien diesen Grundsatz. Ob ein 1769, 1858 oder 1912 verstorbener Dorfbewohner in den Augen seiner Zeitgenossen Lichtgestalt, verschrobener Kauz oder doch eher Stinkstiefel war, lässt sich in den meisten Fällen mangels Überlieferung ohnehin nicht mehr feststellen. Und auch wenn dies bei einem Menschen, der bis 1956, 1979 oder 2007 gelebt hat, anders sein mag – darüber ein Urteil abzugeben, steht aufgrund des fehlenden öffentlichen Interesses allenfalls den direkten Hinterbliebenen zu. Sollte allerdings davon losgelöst die eine oder andere Biographie Anlass zu Diskussionen über eine entsprechende Einordnung geben: Es wäre bei allem aufrichtigen Respekt der jeweiligen Person gegenüber ein Nebeneffekt, der durchaus erwünscht ist.