Persönliche Erinnerungen an Mathilde König

Die folgenden Erinnerungen sind Teil einer Biographie, die Mathildes 1919 geborene Tochter Mathilde Gesine Pfau nach dem Tod der Mutter verfasst hat. Sie liefern auch einige Impressionen aus dem Lintel der 1930er und 1940er Jahre sowie das von Mathildes Familie in dieser Zeit bewohnte Bahnwärterhaus am Linteler Kirchweg.

Das Haus stand in einer einsamen Landschaft, umgeben von Wiesen, Weiden und Wald. Unsere Nachbarn wohnten fünf bis zehn Minuten Gehweg von uns entfernt. Bis zur Schule und zum nächsten Kaufmann benötigten wir eine halbe Stunde zu Fuß. Bei schlechtem Wetter und im Winter waren es keine angenehmen Wege. Ab Frühjahr bis zum Herbst, solange das Vieh auf den Weiden war, bat uns der Gutsbesitzer Haverkamp, dessen Land bis zum Bahndamm reichte, seine Rinder aus zwei Brunnen mit Wasser zu versorgen.

Es war sehr mühsam, an heißen Tagen den Durst der 70 bis 100 Rinder zu stillen. Als Gegenleistung stellte uns der Bauer eine Kuh zur Verfügung, mit einer Milchleistung von täglich zehn Litern. Das Wasserpumpen mussten wir Kinder besorgen. Wenn die Kuh nicht in der Nähe unseres Hauses war, schickte Mutter mich vor der Schulzeit zum Melken. Sie durfte den Schrankenposten nicht verlassen. Zu unserem Mini-Bauernhof war eine Kuh gekommen. Der Weg zur Tränke war nicht gefahrlos. So konnte sich Egon einmal nur mit knapper Not vor einem wütenden Stier, der ihn mit den Hörnern traktierte und seine Kleidung zerrissen hatte, durch einen kühnen Sprung über den Stacheldrahtzaun retten.

Durch die geregelte Arbeitszeit konnte Mutter mehr an ihr eigenes Ich denken und ihrem Hobby frönen, Nähen und Handarbeiten! Mein erstes Ballkleid mit Glockenrock aus rostbraunem Stoff schneiderte sie. Ich habe es oft und gern getragen. Für einen Ausflug mit KdF, Kraft durch Freude, nach Norderney nähte sie für Wilma und mich hellblaue Leinen-Kostüme und zartgelbe Blusen aus Organza. Besonders gern trugen Wilma und ich die die von Mutter angefertigten Ballkleider aus weißem Voile, Rock und Oberteil mit Biesen verziert, die Unterkleider aus dezent rotem Taft, der zart durch den Stoff schimmerte.

Wir Jugendlichen lebten unbekümmert, waren an Politik gar nicht interessiert und ahnten nicht, wie nahe der Zweite Weltkrieg schon war. Unsere Eltern schwiegen aus Angst, verraten zu werden. Der 1. September 1939! Ich wollte mit meinem Fahrrad nach Oldenburg fahren, wo ich nach dem abgedienten Landjahr die Handelsschule besuchte, als ich Mutter mit verstörtem Gesicht beim Diensttelefon stehen sah. Sie schlug die Hände zusammen und sagte: „Jetzt ist schon wieder Krieg. Hitler hat Polen den Krieg erklärt. Das geht nicht gut aus.“ Der Erste Weltkrieg mit den sinnlosen Opfern war bei der älteren Generation, bei unseren Eltern, noch nicht vergessen.

Die Lebensmittel wurden bei Ausbruch des Krieges rationiert. Die wöchentlichen Zuteilungen erfuhr man aus der Tageszeitung. Auch Kleiderkarten wurden eingeführt. Bei einer Eheschließung erhielten die Neuvermählten, um einen Hausstand gründen zu können, Ehestands-Darlehen. Diese gute Einrichtung hatte einen Haken: Man konnte die Gutscheine nicht einlösen, weil keine Ware vorhanden war.

Zurückblickend als Mutter und Großmutter auf meine Kinder- und Jugendzeit frage ich mich, wie unsere Mutter mit der Erziehung ihrer neun Kinder fertig wurde. In unserer Familie war sie die dominierende Persönlichkeit. Durch ihr resolutes, gerechtes Auftreten und ihren strengen Blick verschaffte sie sich Respekt. Bedingt durch die große Kinderschar war diese Erziehungsmethode angebracht. Manchmal trat auch die Rute, mit Recht, in Aktion. Mit dieser harten Strafe wollte sie uns vor Schaden bewahren.

Benno, so erzählte Luise, bekam einmal zu Unrecht eine Tracht Prügel. Er verdiente sich beim Blasebalg-Treten in der Kirche und in der Tischlerei Köster in Großenmeer für kleine Arbeiten etwas Geld. Von diesem kaufte er sich eine Lampe, die man ein- und ausknipsen konnte, eine Taschenlampe. Damit hatte er sich seinen Herzenswunsch erfüllt, ohne Wissen der Eltern. Dieses Wunderding nahm er auch in die Schule mit. Während der Unterrichtsstunde spielte er mit der Lampe und wurde dabei vom Lehrer ertappt. Sie wurde ihm abgenommen und den Eltern übergeben. Mutter glaubte an einen Diebstahl. Für diese vermeintliche Tat bekam Benno den Stock zu spüren. Seit dieser voreiligen Bestrafung nahm sie keinen Stock mehr in die Hand.

Kurz vor dieser Begebenheit, ich war fünf oder sechs Jahre alt, machte ich Bekanntschaft mit der Rute. Vom Schrankenposten aus sah Mutter, wie ich über einen tiefen Wassergraben sprang. Es ging immer hin und her. Für mich war dieses Spiel sehr lustig. Die damit verbundene Gefahr des Ausrutschens erkannte ich nicht. Die Rufe von Mutter überhörte ich. Als ich dann nach Hause kam, das selbstgenähte, mit Spitzen besetzte Unterhöschen und Kleid voller Schmutz, bezog ich meine Strafe. Bevor ich diese erhielt, machte sie mich auf meine Unfolgsamkeit und die Gefahr des Ertrinkens, wenn ich ins Wasser gefallen wäre, aufmerksam.

Ein furchtbares Erlebnis hatte Mutter mit Artur. Auf dem Küchenherd hatte sie einen großen Topf Futter für das Schwein gekocht und stellte ihn auf den Fußboden. Durch ein Gerangel mit den Brüdern geriet Artur mit den Beinen in die kochend heiße Masse und erlitt sehr schwere und schmerzhafte Brandwunden.

Weihnachten 1925 nahmen Mutter, Wilma und ich, Lili war auch dabei, an einer Weihnachtsfeier teil, die Pastor Börner veranstaltete. Hier hatte Wilma ihren großen Auftritt. Mit kaum vier Jahren sang sie mit reiner Stimme das Lied „Vom Himmel hoch, da komm‘ ich her“ und bekam viel Beifall. Als Belohnung durfte sie sich vom Christbaum Süßigkeiten nehmen. Ich sollte ein Gedicht aufsagen und war sehr aufgeregt. Den Anfang („Kiek ins, wat lett de Himmel so rot! Dat sünd de Engels, se backt dat Brot. Se backt den Wihnachtsmann sin Stuten vör all de lütten Leckersnuten“) schaffte ich. Dann wusste ich nicht weiter und stand mit Tränen in den Augen, weil ich mich schämte, auf dem Schemel.

Nach dem Umzug von Großenmeer nach Meyershof sorgte Luise für Aufregung. Vater war mit Luise an der Hand in den Gemüsegarten gegangen, um Unkraut zu jäten. Dieser war durch tiefe Wassergräben abgegrenzt. Plötzlich hörte er eine aufgeregte Kinderstimme: „Die Kleine ist ins Wasser gefallen.“ Ein Junge aus Berlin, der zu Besuch bei Lehrer Böning war und auf der gegenüberliegenden Weide unseres Gemüsegartens gespielt hatte, sah, wie Luise ins Wasser fiel. Vater konnte sie noch rechtzeitig retten.

Als Luise noch im Kinderwagen lag, sollten August und Artur auf sie aufpassen. Der Wagen stand vor dem Haus, auf dem etwas abschüssigen Vorplatz. Abgelenkt durch ihr Spiel, vergaßen die Buben den Wagen. Dieser setzte sich in Bewegung und rollte in den Graben. Er schwamm noch auf der Wasseroberfläche, als August ihn bemerkte. Mit einem Satz sprang er ins Wasser und holte den Wagen raus.

Ein Husarenstück leisteten sich Luise und Egon und bereiteten meinen Eltern bange Minuten. Die beiden waren plötzlich verschwunden. Alles Rufen und Suchen war vergeblich. Bei den Nachbarn waren sie nicht zu finden. Mutter stand Ängste aus. Nach geraumer Zeit kamen die Ausreißer, Hand in Hand, mit rotem Gesicht, aus Richtung Brake anmarschiert. Voller Begeisterung erzählten sie vom Wasser, das immer hin und her schaukelte. Mit dem Wasser war die Weser bei Brake, die hier 800 Meter breit ist, gemeint. Egon mit zwei und Luise mit fast fünf Jahren hatten einen gefährlichen Ausflug unternommen.

Egon mit seinen zwei Jahren litt in den Abendstunden unter starken Leibschmerzen. Trotz ärztlicher Behandlung trat keine Besserung ein. Die Eltern holten einen anderen Arzt. Dieser stellte die richtige Diagnose: Egon hatte Würmer. Er bekam eine wirksame Medizin verschrieben. Am nächsten Morgen, Bubi, so wurde er gerufen, hatte gut geschlafen und war früh aufgestanden. Hans erschien in der Küche und hob vom Fußboden einen vermeintlichen Ventilschlauch auf. Beim näheren Hinsehen stellte sich der Irrtum heraus. Das Fundstück war der erste Spulwurm, den Egon verloren hatte. Im Laufe der nächsten Tage verlor Egon mindestens 80 lange Würmer, Mutter hat sie gezählt. Nachdem Egon die Schmarotzer los war, erholte er sich schnell.

Es war noch in Großenmeer, als Mutter mit Wilma den Arzt aufsuchen musste. Wilma half fleißig beim Bohnenauspulen, als sie auf den Gedanken kam, sich einen Bohnenkern in die Nase zu stecken. Beim Versuch, ihn zu entfernen, rutschte dieser immer höher in die Nasenhöhle. Wilma bekam Schmerzen und der Weg zum Arzt war notwendig. Trotz starker Gegenwehr konnte er den Fremdkörper aus der Nase entfernen.

Aus Mutters Erzählungen über die Erlebnisse mit ihren Kindern erfuhr ich, dass sie durch mich auch Ängste durchstehen musste. Kaum konnte ich laufen, kletterte ich auf die Stühle, und von hier weiter auf den Tisch. Meine Kletterpartie endete mit einem Sturz. Mit einem verstauchten Arm musste Mutter mit mir den Doktor aufsuchen.

Noch einmal sorgte ich für eine große Aufregung. Mutter war in den Garten gegangen, um grüne Bohnen zu pflücken. Ich spielte im Sandkasten. Von Ferne hörte sie das Geräusch eines näherkommenden Zuges. Sie schaute auf, aber ich war nicht zu sehen. Plötzlich entdeckte sie auf den Schienen meine weißen Haare, nur diese waren von mir zu sehen. Sie sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Gleise und riss mich im letzten Augenblick von den Schienen. Sie hatte mein Leben gerettet.

Nun wieder von Großenmeer nach Meyershof. Auf dem Bahnübergang geschah ein schreckliches Unglück. Nach Ankündigung eines Zuges schloss Vater die Schranken. Ein durchgehendes Pferdegespann näherte sich. Vater überlegte, so wie er später erzählte: Soll ich die Schranken öffnen, damit das Fuhrwerk noch vor dem Zug den Übergang passieren kann, oder ist der Zug schneller, oder stoßen Zug und Pferde zusammen, wenn ich die Schranken öffne? Dies waren seine Gedanken, die ihm während dieser Situation durch den Kopf gingen. Vater ließ die Schranken geschlossen. Die Pferde rasten durch das Hindernis. Sie wurden vom Zug erfasst und getötet. Das auf dem Wagen sitzende Ehepaar war verletzt. Die Frau wurde bewusstlos in unser Wohnzimmer getragen und kam nach Erster-Hilfe-Leistung mit einem Schädelbruch ins Krankenhaus. Der Mann hatte leichtere Verletzungen erlitten. Der Unglücksort mit den verstümmelten Pferden sah furchtbar aus und war binnen kurzer Zeit von Schaulustigen umringt.

Vater hatte in seiner Gewissensnot richtig gehandelt. Wäre das Unglück bei geöffneten Schranken geschehen, wäre Mutter, die für den Bahndienst verantwortlich war, zur Rechenschaft gezogen worden. Ein anderes Mal fand Vater in der Nähe unseres Hauses ein Liebespaar, das sich vor den Zug geworfen hatte. Noch einmal fand er auf den Schienen einen Lebensmüden, der sich vor den Zug geworfen hatte. Fürwahr, grausige Anblicke! Wir Kinder mussten oft ausgebrochene Rinder von den Bahngleisen jagen. Für uns ein gefährliches Unternehmen, besonders dann, wenn sich ein Zug näherte. Die Biester liefen meistens geradeaus weiter und nicht vom Bahndamm runter.

Der Schrankendienst war ein verantwortungsvoller Beruf. Es geschah schon mal, dass Mutter die Ankündigung eines Zuges überhörte und die Schranken nicht schloss. Wenn der Warnpfiff von der Lokomotive ertönte, versuchte sie oder versuchten wir Kinder noch schnell die Schranken zu schließen. Aus verständlichen Gründen zeigte dann der Lokomotivführer seine Faust. Angezeigt, glaube ich, wurde Mutter nicht. Sie versah ihren Dienst sehr gewissenhaft.

Mutter hatte sehr wenig Freizeit zur Verfügung. Doch wenn sie einen Klönschnack mit der Nachbarin Koopmann über den Wassergraben hinweg machte, vergaß sie ihre Alltagssorgen. Sie hatte auch einen Verehrer. Wir nannten ihn, weil er einen Spitzbart hatte, Spitzbart Meyer. Er besuchte Mutter oft. Wenn er abends kam, und Vater Nachtdienst hatte, weckte sie eines von uns Kindern, um ja nicht allein mit ihm in der Küche zu sitzen. An diese harmlose kleine Episode erinnere ich mich sehr gut.

In Meyershof hatten Wilma und ich ein kleines Abenteuer zu bestehen. Es geschah in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit. Mutter schickte uns mit einem Handwagen zum Kohlenhändler, um einen Zentner Briketts zu holen. Ich bekam fünf Mark in die Hand gedrückt. Unterwegs, wir waren noch in Mutters Sichtweite, kam ein Bettler auf uns zu. In der Hand hatte er einen Gegenstand, ich glaube, es war ein Messer, und bedrohte uns. Er wollte das Geld haben. Ich machte eine Faust, hielt das Geld fest, ließ den Wagen los und sprang über den neben der Straße verlaufenden Wassergraben. Wilma lief nach Hause zurück. Nachdem ich den Mann nicht mehr sah, kam ich auf die Straße zurück und holte die Kohlen.

Bei einem von meinen Besuchen bei Mutter und den Geschwistern fragte ich sie, wie sie die Schwangerschaften und Geburten ihrer neun Kinder gesundheitlich und seelisch verkraftet hatte. Ihre Antwort kam zögernd. Nur ein einziges Mal habe sie versucht, den Arzt um Hilfe zu bitten. Er kannte die wirtschaftliche Not unserer Familie und half. Trotz des Eingriffes bekam Mutter was Kleines. Weiter erzählte sie, dass sie des Öfteren geweint hätte, wenn sie sich wieder schwanger fühlte. Aber heute sei sie stolz auf ihre Kinder. Sie habe sie zu rechtschaffenen, tüchtigen Menschen erzogen.

Die letzten Wochen vor Mutters Tod half ich Wilma bei der Pflege. Es war hart, mitansehen zu müssen, wie Mutter, die neun Kindern das Leben schenkte, sie unter großen Opfern und Entbehrungen aufzog, leiden musste. Durch das Erbrechen der Magensäure und der Galle war die Speiseröhre wund geworden und sie hatte Schmerzen. Wilma holte einen Arzt. Er gab ihr eine Injektion. Wir versprachen uns für sie eine ruhige Nacht. Aber es kam ganz anders. Nachdem sie eingeschlafen war, hörten wir im Wohnzimmer einen markerschütternden Schrei. Wir liefen hinauf und sahen, wie Mutter mit hoch erhobenen Händen im Bett lag, die Augen nach oben gerichtet. Die lauten Schreie wiederholten sich. Dann rief sie: „So helpt mi doch!“ Ihre Blicke und Hände waren stets zur Zimmerdecke gerichtet. Wenn sie unsere Hände spürte, sank sie für kurze Zeit in sich zusammen.

Anderthalb Stunden dauerte dieser Todeskampf. Von wem erflehte sie Hilfe? Mit wem hatte der Kampf zwischen Dies- und Jenseits stattgefunden? Es sind Fragen, die nicht beantwortet werden können. Nach diesem Ringen mit dem Tod schlief Mutter noch bis zum letzten Atemzug 24 Stunden. Sie hatte ihren langen Lebensweg, der mit harten Schicksalsschlägen, Sorgen, Mühe, aber auch mit Freude und schließlich im Alter mit Zufriedenheit gepflastert war, beendet.