Anna Gorath – Biographie

Anna Johanne Adele Gorath wird am 4. Juli 1876 als erstes Kind von Heinrich Mönnich und Rebecka Mönnich auf dem elterlichen Hof in Wüsting (heute: Hanna Mönnich) geboren. Sie ist die ältere Schwester von Johann Mönnich, Rudolf Mönnich, Hermann Mönnich und Mathilde Heine. Zeitungsberichten aus den 1930er Jahren zufolge hat sie noch einen vierten, im Ersten Weltkrieg gefallenen Bruder. Die Suche nach seinem Namen im Archiv der Kirchengemeinde Holle brachte allerdings bislang keine Ergebnisse.

Eine Woche vor Annas Geburt findet im heutigen US-Bundesstaat Montana die Schlacht am Little Bighorn statt. Darin löscht eine vereinte Streitmacht aus Sioux, Arapaho und Cheyenne fünf von George Armstrong Custer angeführte Kompanien des 7. Kavallerie-Regiments nahezu komplett aus. Vorangegangen sind mehrere taktische Fehler Custers. Im Bestreben, eine Gruppe scheinbar fliehender Indianer möglichst rasch einzuholen, tappt er in deren Hinterhalt und sieht sich mit einem Teil seiner zuvor leichtsinnigerweise in mehrere Gruppen aufgeteilten Truppe plötzlich einer erdrückenden Übermacht gegenüber. Insgesamt verlieren beim folgenden Angriff und bei mehreren im unmittelbaren Umfeld der Schlacht geführten Gefechten 268 Angehörige der US-Armee ihr Leben. Für die Verluste der Indianer kursieren unter Historikern lediglich Schätzungen, sie bewegen sich zwischen 36 und 200 Kriegern.

Es ist rückblickend betrachtet das einzige Mal, dass die indigenen Ureinwohner Nordamerikas gegen ihren prinzipiell in allen Belangen überlegenen Dauer-Gegner einen derart eindeutigen Sieg davontragen. Dementsprechend entsetzt reagiert die US-Öffentlichkeit auf die Nachricht, die sie mitten in den Vorbereitungen zur 100-Jahr-Feier der USA am 4. Juli 1876 erreicht. Eigentlich sollte bis zu diesem Tag das von Präsident Ulysses S. Grant ausgegebene Ziel erreicht sein, alle in den nordwestlichen Territorien des Landes lebenden Angehörigen der eingangs genannten Stämme in Reservate zu überführen.

Dass es anders kam, macht die ausführlich über die Schlacht berichtende Presse vor allem an einem Mann fest: Sitting Bull. Einige Kommentatoren versteigen sich zu der Behauptung, der den Angriff anführende Häuptling der Hunkpapa-Sioux sei gar kein richtiger Indianer oder – noch abstruser – er habe sich heimlich als Spion in die Militärakademie von West Point eingeschlichen, um die Taktik seiner Feinde zu studieren. Andernfalls wäre es ihm nie gelungen, Custer zu besiegen. Gleichzeitig werden Rufe nach harten Vergeltungsmaßnahmen laut. Tatsächlich verstärkt die US-Armee in den kommenden Monaten den Druck auf die fortan wieder getrennt kämpfenden Stämme. Deren Führer müssen sich bis Herbst 1977 einer nach dem anderen ergeben. Lediglich Sitting Bull gelingt mit einigen hundert Gefolgsleuten die Flucht nach Kanada, wo er bis 1881 im Exil lebt. Dann kapituliert auch er und verbringt die folgenden Jahre im Reservat Standing Rock.

Dass der Freiheitskampf der Sioux im Wüsting der 1870er Jahre zu einem breit diskutierten Gesprächsthema wird, ist eher unwahrscheinlich. Falls doch, dann aus gänzlich anderer Perspektive – nämlich aus der jener Einwanderer mit Oldenburger Wurzeln, die sich im Mittleren Westen der USA auf ehemaligem Indianergebiet ansiedeln wollen beziehungsweise dies in den vorangegangenen Jahrzehnten bereits getan haben. Etliche dieser Pioniere kennen Annas Eltern vermutlich noch von Angesicht zu Angesicht: Seit Mitte der 1850er Jahre haben mehrere Dutzend Personen aus Wüsting und den umliegenden Dörfern ihre angestammte Heimat Richtung Nordamerika verlassen. Darunter auch die Geschwister Gerd, Anna und Tönjes Hinrich Mönnich aus Holle mit ihren jeweiligen Ehepartnern und Kindern. Bei ihnen handelt es sich zwar um keine direkten Verwandten, gekannt haben werden sich die Familien aber bestimmt.

Für Annas Eltern wiederum gibt es keinen Anlass zum Auswandern: Sie bewirtschaften ihren nach der Hochzeit gekauften Hof im Ortsteil Hahnenkampshöhe, Vater Heinrich betätigt sich zudem nebenbei als Hausschlachter und Imker. Mit im Haushalt leben die Großeltern Johann und Anna Margarete Mönnich. Details aus dieser Zeit sind allerdings nicht mehr bekannt. Dasselbe gilt für die ersten Jahre nach Annas Schulentlassung und Konfirmation sowie für die Umstände, unter denen sie und ihr künftiger Ehemann Johann Gorath um die Jahrhundertwende herum ein Paar werden. Letzterer, ein halbes Jahr jünger als Anna, wächst an der Hauptstraße Richtung Altmoorhausen auf einem lediglich anderthalb Kilometer entfernten Hof (heute: Hans Dieter und Lisa Gorath) auf, ist aber als Kind sehr wahrscheinlich einem anderen Schulbezirk zugeordnet.

Anna und Johann heiraten am 19. Mai 1903 in Hude. Danach zieht Anna zu Johann und dessen verwitweten Mutter Anna Catharine auf den Gorath-Hof, wo sie am 2. März 1904 Tochter Alwine zur Welt bringt. Drei Wochen später stirbt kurz vor ihrem 85. Geburtstag Großmutter Anna Margarete. Mit Johanne (September 1905), Mathilde (Januar 1907), Heinrich (August 1908) und Ella (Juli 1914) vergrößern dann in den folgenden Jahren vier weitere Kinder die Familie.

Unmittelbar nach der Geburt der jüngsten Tochter markiert der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt in Annas Leben. Ehemann Johann wird zwar allem Anschein nach nicht sofort zur kaiserlichen Armee eingezogen. Auf Dauer dem Kriegsdienst entziehen kann er sich aber nicht. Dasselbe gilt für Annas vier Brüder. Aus diesem Quintett kehren mit Rudolf und Hermann Mönnich 1918 lediglich zwei Männer nach Wüsting zurück. Johann Gorath fällt im Oktober 1916 an der Westfront, über den letzten Einsatzort seiner beiden gefallenen Schwager ist heute nichts mehr bekannt.

Für Anna sind die Ereignisse ein harter Schlag – sie steht nach Kriegsende mit dem Hof und fünf Kindern, die fortan entsprechend mitanpacken müssen, alleine da. Etwas Hilfe kommt immerhin von ihren überlebenden Brüdern, die beide unverheiratet bleiben und in der Nachbarschaft den elterlichen Mönnich-Hof weiterbewirtschaften. Das nächste Unglück lässt jedoch nicht lange auf sich warten: Im Mai 1922 stirbt die älteste Tochter Alwine nach einer zu spät operierten Blinddarmentzündung. Der Schmerz darüber überdauert mit Sicherheit nicht nur die folgenden Monate der Hyperinflation, sondern auch die wirtschaftlich wieder etwas besseren Jahre ab 1924. Ganz verschwindet er vermutlich nie.

Anfang der 1930er Jahre ziehen mit der Weltwirtschaftskrise erneut dunkle Wolken auf. Familiär gibt es jedoch gleich mehrfach Erfreuliches zu berichten: Tochter Johanne heiratet im März 1930 Hugo Wardenburg, aus dieser Verbindung geht im Dezember 1931 Annas erstes Enkelkind Anita hervor. Das zweite, im Mai 1933 geborene Enkelkind Wilma steuert Tochter Mathilde aus der im Oktober 1932 geschlossenen Ehe mit Johann Lütjeharms bei. Am 25. Februar und 6. März 1933 wiederum feiern Annas Eltern im Abstand von nur neun Tagen bei guter Gesundheit ihren jeweils 80. Geburtstag.

Ähnlich wie die Geburt von Annas jüngster Tochter Ella im Sommer 1914 fallen die vier letztgenannten Ereignisse in eine bedeutsame Wendezeit. Obwohl die durch die Weltwirtschaftskrise enorm Zulauf gewinnenden Nationalsozialisten bei den jüngsten Reichstagswahlen vom 6. November 1932 einen empfindlichen Dämpfer erhalten haben, ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg deren Führer Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Das ist der Anfang vom Ende der 1918 ausgerufenen Weimarer Republik: Knapp zwei Monate später ebnet das Ermächtigungsgesetz den Weg in den NS-Staat.

Annas als Hoferbe feststehender Sohn Heinrich heiratet im Mai 1935 Klara Windels aus Tweelbäke, nach der Hochzeit von Tochter Ella mit Johann Windels (ein Vetter Klaras) im November 1936 sind dann alle vier Kinder in den Hafen der Ehe eingelaufen. Mit Erika (November 1934), Irma (Juni 1936), Almut (Juli 1936), Magda (Februar 1937), Hans Dieter (September 1937), Elfriede (Januar 1939), Hermann (Februar 1939), Marga (Februar 1939) und Herta (Mai 1939) kommen zu den zuvor zwei geborenen Enkelkindern noch einmal neun hinzu. Im September des besonders enkelreichen Jahres 1939 beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg.

Trotz aller Schrecken, die die folgenden Jahre mit sich bringen, verläuft dieser Krieg für Annas Familie einigermaßen glimpflich. Weder Sohn Heinrich noch einer der drei Schwiegersöhne verliert bis zur Kapitulation der Wehrmacht im Frühjahr 1945 sein Leben. Bei der Bewirtschaftung des Hofes in Heinrichs Abwesenheit springt neben einem französischen Kriegsgefangenen und mehreren dienstverpflichteten Frauen aus Polen und der Ukraine einmal mehr Bruder Rudolf ein.

Nach der Rückkehr aus französischer Gefangenschaft übernimmt Heinrich Anfang 1947 wieder seinen angestammten Platz auf dem Hof. Obwohl Anna im Jahr zuvor ihren 70. Geburtstag gefeiert hat, arbeitet sie weiter regelmäßig in der Landwirtschaft und vor allem im von Schwiegertochter Klara verantworteten Haushalt mit. Derweil ist die nächste Generation bereits unterwegs: Zwischen 1949 und 1966 kommen insgesamt 25 Urenkelkinder zur Welt, von denen zwei – Hans Dieters Kinder Udo und Ingrid – mit Anna unter einem Dach aufwachsen. Als einziger Sohn steht Hans Dieter, seit Mai 1961mit Lisa Sanders aus Tweelbäke verheiratet, frühzeitig als Hoferbe fest.

Nach einigen krankheitsbedingten Problemen Anfang der 1960er Jahre kann Anna am 4. Juli 1966 ihren 90. Geburtstag wieder bei zufriedenstellender Gesundheit feiern und unter anderem den lautstark überbrachten musikalischen Gruß Wüstinger Schulkinder entgegennehmen. Auch an den folgenden Geburtstagen geben sich angesichts der großen Nachkommenschaft auf dem Gorath-Hof jeweils bis zu 70 Gäste die Klinke in die Hand – zum letzten Mal im Juni 1969. Danach schwinden Annas Kräfte, sie stirbt am 12. Januar 1970 an Altersschwäche. Beerdigt ist Anna zwei Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.