Mathilde Haverkamp – Biographie

Mathilde Gesine Haverkamp wird am 26. Dezember 1898 als einziges Kind von Hinrich Plate und Gesine Plate in Süderbrook bei Altenesch geboren.

Am Tag von Mathildes Geburt referiert der französische Physiker Henri Becquerel in Paris vor der Akademie der Wissenschaften die jüngsten Forschungsergebnisse seiner Kollegen Pierre und Marie Curie und gibt dabei die Entdeckung des bis dato unbekannten chemischen Elements Radium bekannt. Es ist neben dem nach Marie Curies polnischer Heimat benannten Polonium bereits das zweite radioaktive Element, dem das Ehepaar auf die Spur gekommen ist. Dafür analysierten beide in ihrem Labor über Monate hinweg riesige Mengen an Pechblende, die sie sich aus dem böhmischen Bergbau-Ort Sankt Joachimsthal hatten anliefern lassen.

Am Ende des 19. Jahrhunderts steckt die Erforschung der Radioaktivität noch in den Kinderschuhen. Zur Initialzündung wird 1895 die Entdeckung der nach Wilhelm Conrad Röntgen benannten Röntgenstrahlen, der umfangreiche Experimente Becquerels folgen. Darauf bauen Pierre und Marie Curie auf. Während Pierre Currie fortan eher allgemein weiterforscht, widmet sich Marie von Anfang 1899 an explizit der Aufgabe, Radium chemisch zu isolieren und so dessen Eigenschaften zu bestimmen. Eine enorme Fleißarbeit: Insgesamt dauert es mehr als dreieinhalb Jahre, bis die nötige Menge von einem zehntel Gramm Radiumchlorid für eine aussagekräftige Analyse zusammenkommt. Im Dezember 1903 erhält Marie Curie dafür gemeinsam mit ihrem Ehemann und Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik zugesprochen – allerdings erst, nachdem Pierre Curie, den das Nobelpreis-Komitee aus dem patriarchalen Verständnis jener Zeit heraus zunächst allein mit Becquerel ehren will, im Falle ihrer Nichtberücksichtigung damit droht, die Auszeichnung abzulehnen.

Zur Verleihung in Stockholm reist das Ehepaar dann aber nicht an. Marie Curie ist durch die radioaktive Strahlung, der sie im Labor jahrelang ungeschützt ausgesetzt war, stark geschwächt – führt die Symptome ihrer Erkrankung allerdings auf Überarbeitung zurück sowie auf eine Fehlgeburt, die sie im August 1903 erlitten hat. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Radium in jenen Jahren aufgrund seiner besonderen Eigenschaften nicht nur als überaus nützlich, sondern sogar als gesund und schönheitsfördernd: Ärzte empfehlen Radium-Trinkkuren gegen Rheuma und Gicht, Apotheker verkaufen radioaktive Kosmetika. Sankt Joachimsthal, mit dessen Pechblende der Hype begann, wandelt sich derweil vom Bergbau- zum Kurort und eröffnet 1906 das weltweit erste Radium-Heilbad.

Mit Bodenschätzen oder gar Heilquellen kann Mathildes Heimatgemeinde nicht aufwarten. Dafür wächst Mathilde in wahrhaft geschichtsträchtiger Umgebung heran: Ganz in der Nähe des von ihren Eltern bewirtschafteten Hofes standen sich am 27. Mai 1234 in der Schlacht bei Altenesch rund 2.000 Stedinger Bauern und bis zu 8.000 Kämpfer des Bremer Erzbischofs Gerhard II. gegenüber. An die vernichtende Niederlage der Stedinger erinnert seit 1834 ein gusseisernes Denkmal auf dem St.-Veit-Hügel, das Mathilde bei ihren kindlichen Streifzügen rund um die Alte Ochtum sicher oft ins Auge fällt. Wo die Schlacht einst stattfand, steht im Ortskern von Altenesch seit sechs Jahrhunderten die St.-Gallus-Kirche und direkt daneben die Volksschule, die Mathilde von 1905 an besucht. Zumindest eine ihrer Mitschülerinnen ist namentlich bekannt: die Seemanns-Tochter Käthe Röver aus dem Süderbrook direkt gegenüber liegenden Ortsteil Braake.

Als Einzelkind lernt Mathilde auf dem elterlichen Hof wahrscheinlich früh mitanzupacken. Vermutlich arbeitet sie dort auch nach Konfirmation und Schulentlassung im Frühjahr 1913 zunächst weiter mit. Über die folgenden Jahre und ihre Erlebnisse in der Zeit des Ersten Weltkriegs ist innerhalb der Familie nichts überliefert – auch nicht, ob Vater Hinrich als Soldat daran teilnimmt. Vor ihrer Hochzeit mit Adolf Haverkamp aus Lintel, den sie auf einem Tanzabend im „Waldgasthof Hasbruch“ kennenlernt, ist Mathilde noch rund ein Jahr lang in einem größeren Haushalt in der Nähe von Bad Nenndorf in Stellung.

Mathilde und Adolf heiraten am 16. Januar 1925 in Altenesch, gut zwölf Monate nach Ende der verheerenden Hyperinflation. Danach zieht Mathilde auf den rund 80 Hektar großen Haverkamp-Hof, den Adolf später einmal übernehmen soll (heute: Ralf und Jannik Haverkamp). Noch führen allerdings dessen Eltern Georg und Metta Haverkamp den seit über 400 Jahren in Familienbesitz befindlichen Betrieb. Dass es davon losgelöst für Mathilde in Lintel mehr als genug Arbeit gibt, versteht sich aber angesichts der zu jener Zeit noch kaum mechanisierten Landwirtschaft von selbst.

Aus Mathildes Ehe gehen mit Gerd (Oktober 1926) und Heino (Dezember 1928) zwei Söhne hervor. Im Juli 1933 – sechs Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – stirbt Schwiegermutter Metta im Alter von 65 Jahren. Die folgenden Jahre sind auch in Lintel geprägt vom absoluten Herrschaftsanspruch des NS-Staates, der weder Individualität noch Widerspruch duldet und allen Friedensbeteuerungen zum Trotz zielgerichtet auf den nächsten Weltkrieg zusteuert. Als dieser am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen als Blitzkrieg beginnt, dürfte Mathilde zunächst noch guter Hoffnung sein, dass alles längst vorbei sein wird, ehe ihre beiden jugendlichen Söhne das wehrfähige Alter erreichen. Eine Hoffnung, die indes mit jedem Monat weiter schwindet. Am Ende platzt sie wie eine Seifenblase: Als die Wehrmacht längst an allen Fronten den Rückzug angetreten hat, erhält 1944 zunächst Gerd einen Stellungsbefehl, im Frühjahr 1945 dann auch Heino. Beide kehren allerdings nur wenig später an zwei aufeinanderfolgenden Tagen unversehrt auf den elterlichen Hof zurück.

Im Frühjahr 1945 ist Mathildes Schwiegervater Georg 76 Jahre alt. Ehemann Adolf wiederum leidet unter einer genetisch bedingten Schwerhörigkeit und hat sich deshalb mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Somit ist es zuvorderst Mathilde, bei der im Chaos der ersten Nachkriegsjahre auf dem Haverkamp-Hof kommunikativ die Fäden zusammenlaufen. Sie organisiert und kümmert sich – unter anderem auch um jene Familien, die nach ihrer Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten dort Zuflucht gefunden haben. Namentlich bekannt sind heute noch Wilhelm Pieper, der später eine Arztpraxis in Hude eröffnet, und Else Böhm, die mit ihren Kindern Eveline und Richard im Februar 1954 nach Frankfurt zieht.

Im Januar 1950 feiern Mathilde und Adolf im Gasthof von Fritz Knutzen Silberhochzeit. Drei Monate später stirbt Georg Haverkamp. Bis an ihr Lebensende in Erinnerung behalten wird Mathilde dann den 21. August 1952: Am Nachmittag jenes Tages gehen große Teile des Haverkamp-Hofes in Flammen auf. Mutmaßliche Brandursache ist ein Kurzschluss im mit Reet gedeckten, 1794 errichteten Haupthaus. Verschont bleibt neben einer erst 1948 errichteten Scheune und einem alten Speicher lediglich ein zweites, zum Zeitpunkt des Brandes mit zwei Vertriebenen-Familien belegtes Wohnhaus aus dem Jahre 1924, das Mathilde daraufhin mit Adolf und den beiden Söhnen Gerd und Heino bezieht. Der Wiederaufbau kommt jedoch rasch voran und ist Mitte April 1953 vollständig abgeschlossen.

Die Frage, welcher der beiden Söhne den Hof eines Tages weiterführen soll, ist bereits vor dem Brand zugunsten von Heino gefallen. Doch auch Gerd strebt in die Landwirtschaft, und zum Glück gibt es ja noch den Hof von Mathildes Eltern in Süderbrook. Ihn übernimmt Gerd nach seiner Hochzeit mit Traute Francksen im September 1953. Im Mai 1955 kommt mit deren Tochter Hilke Mathildes erstes Enkelkind zur Welt, dem aus dieser Linie kurz nacheinander vier weitere folgen: Jörg, Hendrik, Thomas und André. Sie wachsen rund 60 Kilometer nördlich von Süderbrook in Klein Tossens auf, wo Gerd in den bessere Wachstumschancen bietenden Hof seiner Schwiegereltern einsteigt. In Lintel ist Mathilde nach der Hochzeit von Heino mit Linda Schwarting aus Hurrel inzwischen ebenfalls von Kinderlachen umgeben: Deren erste Tochter Meike ist im Mai 1958 geboren, die zweite Tochter Elke im Dezember 1959. Mit den Zwillingen Michael und Ralf kommen im März 1965 noch zwei Söhne hinzu.

Der Tod von Ehemann Adolf im April 1972 läutet für Mathilde einen neuen Lebensabschnitt ein. Ein Abschnitt, in dem sie unter anderem das Reisen für sich entdeckt. Mit Lindas Eltern Gustav und Anni Schwarting teilt sie die Vorliebe für den nordrhein-westfälischen Kurort Bad Salzuflen, andere Auszeiten vom Alltag führen Mathilde bis nach Mallorca und Madeira. Daneben trifft sie sich regelmäßig zum Kaffeekränzchen mit ihren Nachbarinnen Mathilde Reil und Mathilde Claußen, die wie sie selbst meist nur kurz „Tilly“ gerufen werden und ebenfalls verwitwet sind. Obwohl in ihren letzten Lebensjahren gesundheitlich stark angeschlagen, hat sie darüber hinaus für die Enkelkinder immer Zeit und ein offenes Ohr – wobei insbesondere die Nesthäkchen Michael und Ralf in den Genuss ihrer Herzlichkeit kommen: Von den regelmäßigen, mit allerlei Naschereien versüßten Fernsehabenden in Omas Stube schwärmen beide noch heute.

Mathilde stirbt am 3. November 1980 im Alter von 81 Jahren. Beerdigt ist sie vier Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.