Der folgende Text von Johann Geerken ist Teil seiner ab 1974 zu Papier gebrachten Lebenserinnerungen. Er handelt von Erlebnissen an der Westfront des Ersten Weltkriegs im September 1917 sowie von einem sich daran anschließenden Heimaturlaub in Lintel.
Aus der Hölle von Verdun in den Heimaturlaub
Viele, viele Kilometer hatten wir bereits zurückgelegt, als uns verkündet wurde, dass wir im Anmarsch auf die Stadt Stenay wären, in der sich das Hauptquartier des Kronprinzen befände. Der vom Kronprinzen geführten Armee sollten wir als fliegende Division zugeteilt werden, unser Einsatzort hieß Verdun, die Höhen von Verdun.
Kurz vor der Stadt wurden wir von der Musikkapelle erwartet und dann hieß es, mit angezogenem Gewehr durch die Stadt zu marschieren. Das war ein Unternehmen, das wir in unserer Lage als lächerlich empfunden haben. Der gleichmäßige Schritt mag einigermaßen gestimmt haben, doch wohl weniger die Gewehrhaltung. In einem noch gut erhaltenen Dorf etwa drei Kilometer von Stenay entfernt bekamen wir Quartier. Die Bevölkerung war hier noch vorwiegend vorhanden.
Die Verpflegung hatte an Qualität und Quantität merklich nachgelassen. In dieser Lage wurde zur Selbsthilfe gegriffen. Die außerhalb des Dorfes liegenden Kartoffelfelder luden geradezu dazu ein. Es war zwar verboten, diese Felder zu betreten, doch so vieles war verboten, und so wurde auch dieses Verbot umgangen. Die zum Schutz eingesetzten Feldgendarme wurden durch besondere Tricks abgelenkt. Unseren Kompanieführer wussten wir auf unserer Seite.
Am zweiten Tag nach dem Eintreffen in diesem Dorf bekamen mein Kamerad Ehlers und ich vom Schreibstuben-Gefreiten die Mitteilung, uns für den Heimaturlaub bereitzuhalten. Zu dieser Zeit waren wir schon länger als ein Jahr an der Front. Die Freude darüber war bei uns groß, doch leider wurde sie etwas getrübt.
Am Nachmittag des gleichen Tages wurde ein Bekleidungs-Appell abgehalten, bei dem unbrauchbar gewordene Bekleidungsstücke ausgewechselt wurden. Obwohl ich eine sehr schlechte Hose hatte, übersah mich der Spieß mit Bedacht. Trotzdem habe ich anschließend die Bitte bei ihm vorgetragen, eine neue Hose ausgehändigt zu bekommen, da ich mit meiner alten kaum noch in Urlaub fahren könne. Meine Bitte wurde mit der Begründung abgelehnt, dass der Urlaub gesperrt sei.
Wir Kameraden vom Stoßtrupp waren nicht die wahren Freunde vom Spieß. Die kleinen Vorteile, die uns Angehörige vom Kompanie-Stoßtrupp zugestanden wurden, versuchte er auf andere Weise in Nachteile umzumünzen. Wir stellten fest, dass nicht alle neuen Bekleidungstücke zur Ausgabe gelangt waren. Wahrscheinlich war eine gewisse Absicht damit verbunden. Aus diesen Stücken habe ich mir eine neue Hose entnommen und die alte Hose dafür zurückgegeben.
Leider folgte das Urteil fast auf dem Fuß, nämlich als ich am nächsten Morgen ahnungslos zur Feldkantine ging, mit der Absicht, mir Zahncreme zu kaufen. Bei diesem Vorhaben erwischte mich der Spieß, und damit nahm das Unheil seinen Lauf. Was kommen würde, war vorauszusehen. Ich bekam den Befehl, mich innerhalb von 15 Minuten in der alten Hose bei ihm auf der Schreibstube zu melden und die neue Hose zurückzugeben. Gemeldet habe ich mich nach der Zeit, allerdings noch in der neuen Hose. Mit sehr unangenehmen Worten bedacht, hat er mich mehr oder weniger aus der Schreibstube hinausgeworfen.
Alles schien dahin zu sein, besonders der Heimaturlaub. Vom Schreibstuben-Gefreiten hörten wir es am gleichen Mittag bei der Essensausgabe anders. Dieser empfahl uns, uns weiter für den Antritt zum Heimaturlaub bereitzuhalten. Am gleichen Tage wurden wir in den späten Nachmittagsstunden alarmiert. Die Front brauchte uns. Das Donnern des an der Front anhaltenden Trommelfeuers war schon lange bis zu uns herübergedrungen. Es waren die Vorboten dessen, was wir zu erwarten hatten.
Kurz vor dem Abrücken an die Front, die Kompanie stand bereits abmarschbereit, haben der Kamerad Ehlers und ich uns auf Anraten des Schreibstuben-Gefreiten nochmal feldmarschmäßig mit der Frage an den Spieß gewandt, ob wir noch mit in Stellung rücken müssten. Die Antwort: wir müssten. Es erübrigt sich wohl, mich über meinen damaligen Gemütszustand zu äußern. Die Front forderte laufend Opfer, und das besonders vor Verdun. Dass ich darunter sein könnte, damit musste ich rechnen. Im Gefühl, dem Urlaub so nahe gewesen zu sein, habe ich mich mehr oder weniger resigniert verhalten. Je mehr wir uns jedoch der Front näherten, schlug die Stimmung um und rief mich zurück in die raue Wirklichkeit. Laufende Feuerüberfälle zwangen uns oft, am Boden Deckung zu suchen.
In einem Ort war eine Munitions-Nachschubkolonne von einem solchen Überfall überrascht worden. Zerstörte Fahrzeuge, blutende Pferdeleiber und gefallene und verwundete Kameraden waren die Opfer geworden. Überlebende Kameraden dieser Einheit, die an einem Hang Deckung gesucht hatten, riefen uns zu, den Ort schnell zu verlassen, denn er läge ständig unter Beschuss. Dieser Ort wurde von uns Flebes genannt. Die französische Schreibweise kenne ich nicht, das scheint an dieser Stelle auch nebensächlich zu sein.
Mit Hilfe von eingesetzten Relais-Stationen haben wir die Stellung erreicht. Mit der lehmigen Erde hatten wir bis dahin ausreichend Bekanntschaft gemacht. Das sollte auch für weitere 24 Stunden der Fall sein. Es galt, einen Posten im Vorgelände unserer Stellung zu beziehen, und zwar zwischen den Fronten, die weniger als 80 Meter auseinander lagen. Ein Kamerad von unserem Trupp war mit von der Partie. Heulend zogen die Granaten in beiden Richtungen über uns hinweg. Diese 24 Stunden sind mir sehr lang vorgekommen. An Urlaub habe ich nicht mehr gedacht, nur noch ans Überleben. Deshalb haben wir uns in diesem Loch so gut es ging der lehmigen Erde angepasst.
Der Abend brachte für mich dann eine angenehme Überraschung – nämlich die Nachricht, dass ich in den Urlaub fahren könne und mit den Essenträgern zurückgehen solle. Leider hatten diese nicht auf mich gewartet. Als ich mich beim Kompanieführer abmeldete, war dieser erstaunt darüber, dass ich noch für einen Tag mit an die Front gerückt sei. Darauf habe ich nur antworten können, dass das auf Befehl des etatmäßigen Feldwebels erfolgt sei. Über das Verhalten des Feldwebels sprach der Kompanieführer seine Empörung aus und fügte hinzu, dass er ihn deswegen zur Rechenschaft ziehen werde.
Eine Bitte richtete er an mich, nämlich seinen in Oldenburg wohnenden Eltern Grüße und ein kleines Päckchen zu überbringen. Den Rückweg habe ich mit Hilfe der Relais-Posten angetreten und bin nach Überwindung von einigen Schwierigkeiten in den Morgenstunden bei der Feldküche unserer Kompanie eingetroffen. Dort traf ich auch den Kameraden Ehlers, der für diese eine Nacht zu den Essenträgern abkommandiert worden war.
An dieser Stelle trafen auch Kameraden anderer Kompanien ein. Niemand von diesen war für diese eine Nacht noch mit an der Front gewesen. Die dadurch aufkommende Verbitterung habe ich angesichts des vor mir liegenden Urlaubs überwunden. Gemeinsam haben wir uns auf den Weg zu einer der fahrbaren Entlausungs-Stationen gemacht. Leider hatten wir kein Glück. Die Station war nicht einsatzbereit, doch angesichts der besonderen Lage und auf unsere nachdrückliche Bitte hin händigte uns der leitende Unteroffizier trotzdem die Entlausungsscheine aus. Das Weitere waren nur noch Formalitäten. Der Entlausungsschein ebnete uns den Weg zur Entgegennahme des Urlaubsscheines.
Der Spieß war bei unserem Eintreffen nicht anwesend. Der Schreibstuben-Gefreite meinte zwar, dass wir uns bei ihm abzumelden und somit seine Rückkehr abzuwarten hätten. Die bereits ausgefüllten Urlaubsscheine übergab er uns allerding schon, empfahl jedoch, vordem noch unsere Uniformen zu säubern. Wir hätten das vielleicht noch gemacht, wenn nicht ein Feldbahnzug, der in Richtung Montmédy fuhr, abfahrbereit auf dem kleinen Feldbahnhof gestanden hätte. Auf diese etwas ungewöhnliche Weise waren wir schnell nach Montmédy gekommen. Vorsicht war auf diesem Bahnhof noch geboten, nämlich aufzupassen, nicht in die Arme der Feldgendarmerie zu laufen. Von dort brachte uns ein Personenzug, der für Front-Urlauber bereitstand, nach Bingen.
Wann und wo wir die deutsche Grenze überfahren haben, kann ich nicht sagen. Der Schlaf hatte sein Recht verlangt, und dem haben wir uns gerne hingegeben. Im Übrigen rollte der Zug durch die Nacht. Als wir in Bingen eintrafen, graute der Morgen. Überraschend schnell bekamen wir Anschluss an einen D-Zug, der uns nach Köln brachte, mussten uns allerdings wegen Platzmangel mit einem Stehplatz im Seitengang zufriedengeben. Der Tag begann mit einem sonnigen Septembermorgen. Die Weinberge entlang des Rheins, die ich in dieser Pracht zum ersten Mal sah, boten ein abwechslungsreiches und schönes Bild.
Der Bahnhof Köln machte dagegen einen weniger freundlichen Eindruck. Für Front-Urlauber schienen die Reisenden wenig Verständnis zu haben. Ein bis Osnabrück gehender D-Zug war derart überfüllt, dass ein Unterkommen in der dritten und zweiten Wagenklasse unmöglich war. Unser Retter war ein Hauptmann in Uniform, der uns zu sich in die erste Klasse einsteigen ließ. Auf diesem Wege gelangten wir schnell nach Osnabrück, wo wir nach einigen Stunden Wartezeit Anschluss nach Bremen und weiter in Richtung Heimat hatten. In den Vormittagsstunden des nächsten Tages erreichten wir die Heimatstation Wüsting, von der es dann heimwärts ging, zunächst noch entlang der Bahn und dann durch die bekannten Wiesen vom Nachbar Haverkamp.
Das Elternhaus war in Sicht. War es noch das wahre Elternhaus? Vielleicht habe ich mir diese Frage nachdenklich gestellt. Eine Antwort habe ich nicht darauf gefunden. Lange war ich von dort fortgewesen, und von dieser Zeit befand ich mich schon mehr als ein Jahr an der Front. Bei einem Frontsoldaten darf man annehmen, dass er hart geworden ist, aber er ist und bleibt ein Mensch, dessen Kraft – besonders die psychische – auch nur bis zu einem gewissen Punkt reicht. An diesem Punkt war ich angelangt, als mir Hans und Gretchen Hand in Hand entgegenkamen. Hatte man mich durch die Wiesen kommen sehen und sie mir entgegengeschickt? Diese Frage ist unbeantwortet geblieben, wie so manche Fragen, die gar nicht erst angeschnitten wurden. Hans und Gretchen haben mich anfangs auch kaum erkannt. Einen einladenden Eindruck machte ich ohnehin nicht, denn der Lehm aus der Stellung vor Verdun haftete noch an meiner Uniform.
Auf eine solche Weise tritt man für einige Tage wieder ein in die Familie, von der man nur noch ein Teil geblieben ist. Wie die Begrüßung war, darüber zu erzählen ist unwichtig. Ich war ohnehin gezwungen, mich zurückhaltend zu verhalten, da ich nicht frei von Ungeziefer – Läusen – war. Vater war über meine Aufmachung beziehungsweise mein Aussehen sichtlich erstaunt, scheinbar wohl auch etwas gerührt. Sein Sohn stand feldmarschmäßig vor ihm, so wie er den Schützengraben verlassen hatte. Die einzige Zierde war die lehmige Erde von den Höhen vor Verdun, von der sich reichlich an meiner Uniform befand. Bestimmt war es ihm etwas weich ums Herz und mir nicht weniger.
Es ist nicht gut, sich in solchen Lagen von Sentimentalitäten überwältigen zu lassen. In Wirklichkeit bleibt man auch im Urlaub mit der Front verbunden. Diese Tatsache kann man in den wenigen Urlaubstagen durch nichts abschütteln, denn man muss zurück in die harte und raue Wirklichkeit. Man spricht nicht gerne über das Erlebte. So habe ich mich wahrscheinlich auch verhalten. Für mich galt es, schnellstens die verlauste Uniform abzulegen und mich ordentlich abwaschen zu können. Für einen Soldaten gibt es keine Probleme, und schon gar nicht, wenn in einem Viehkessel genügend Wasser heiß gemacht werden kann. Die saubere Wäsche war eine Wohltat. Mein Zivilanzug war inzwischen zu klein für mich geworden.
Vater hat in den folgenden Tagen viele Fragen an mich gerichtet. Diese bezogen sich alle auf das Leben und die Geschehnisse an der Front. Für einen Vater verständlich – besonders, wenn er selbst Soldat gewesen ist. Doch die damalige Art der Kriegsführung entsprach nicht mehr den Vorstellungen eines Soldaten, der seinen Ehrendienst beim Militär vor mehr als 25 Jahren abgeleistet hatte, und das war beim Vater der Fall. Daher bin ich wohl mehr oder weniger allen Fragen ausgewichen, denn die Wirklichkeit lässt sich nicht so einfach erklären. Ohnehin wird man wieder viel zu früh damit konfrontiert. Auch das Bewusstsein, dass man wieder in diese Wirklichkeit zurück muss, ist an jedem Urlaubstag gegenwärtig. Ein besonderes Problem bildeten die Federbetten. Ich habe mir für die Urlaubszeit eine Wolldecke ausgebeten und darunter traumhaft geschlafen.
Die ersten Tage mussten für die Reinigung meiner Uniform verwandt werden. Der Viehkessel stand dabei lange unter Dampf. Auch Ausrüstung und Gewehr hatten eine gründliche Reinigung nötig. Vater war dabei besonders an meinem Gewehr 98 interessiert. Er war während seiner aktiven Dienstzeit noch am Gewehr 88 ausgebildet worden. In dieser Richtung ergaben sich dann doch Gesprächsthemen, die weniger mit dem Geschehen an der Front zu tun hatten.
Den von meinem Kompanieführer aufgetragenen Besuch bei dessen Eltern in Oldenburg habe ich schon in den ersten Urlaubstagen erledigt. Ich wurde dort überaus freundlich aufgenommen und wie zu erwarten war, ausgiebig über das Ergehen des Sohnes ausgefragt.
Lintel war für mich mehr oder weniger fremd geworden. In diesem Urlaub habe ich es deutlich empfunden. Gleichaltrige, ehemalige Schulkameraden standen an der Front und mehrere waren schon gefallen, so auch Söhne von einigen Nachbarn von uns. Für solche Eltern ist es dann schmerzlich, wenn der Sohn vom Nachbarn in Urlaub kommen kann.
Mit 14 Jahren war ich aus diesem Ort ausgezogen. Jetzt war ich im 21. Lebensjahr und hatte kaum noch Verbindung zu den Bewohnern – es sei denn, sie wurden gelegentlich in der Gastwirtschaft von Knutzen aufgefrischt. Meine kleine Brieffreundin habe ich natürlich aufgesucht, die mir mit ihren Feldpostbriefen so oft Freude bereitet hatte. Wenn auch nicht viel, so hatten wir uns doch manches zu sagen. Als wir auseinander gingen, konnten wir nicht wissen, dass wir auf ein Wiedersehen fast drei Jahre warten müssten.
In der geschilderten Form ist mein Urlaub vergangen, der für mich nur bedeutete: Zwei Wochen Ruhe und Abwesenheit von der Front. Der Abschiedstag nahte. Mein Tornister und meine Ausrüstung lagen wieder bereit. Dann galt es kurz Abschied zu nehmen. Vater brachte mich mit dem Wagen zur Bahnstation Hude. Beim Abschied war er sichtlich gerührt.