Persönliche Erinnerungen von Johann Geerken I

Zu Beginn seiner ab 1974 entstandenen, mehr als 700 Seiten umfassenden Lebenserinnerungen beschreibt Johann, unter welchen Umständen er Anfang des 20. Jahrhunderts in Lintel aufwächst. Die folgenden, um einige Reflexionen über innerfamiliäre Beziehungen gekürzten Ausführungen vermitteln einen Eindruck davon.

Meine Kindheit in Lintel

Dort, wo das Moor im urwüchsigen Zustand buchtartig in einen Geest-Rücken vordringt mit einem reichen Bestand an Kiefern und Laubwald sich vorstellt, ein kleiner Fluss sich durch die angrenzenden Äcker und Wiesen windet, liegt ein größerer Ort, der sich durch eine alte Klosterruine auszeichnet. Eine kleine Kirche, die dem früheren Kloster als Kapelle diente und heute von der Gemeinde als Gotteshaus genutzt wird, gibt ein romantisches Bild ab. Die am Fluss stehende alte Wassermühle vervollständigt es. Den Fremden lädt dieser Ort zum Verweilen ein. Die alte Klosterschänke sorgt für einen kühlen Trunk. Es handelt sich um die Ruine des alten Zisterzienser-Klosters, welches im Jahr 1282 gegründet und im Jahr 1538 nach der Reformation zerstört worden ist.

Das Waldgebiet, das vorwiegend aus Kiefern bestand und Reiherholz heißt, dehnt sich nach Westen aus, und auch hier gibt das in gleicher Richtung sich ausdehnende Moorgebiet der Landschaft das Gepräge. Ein weit nach Westen reichender Zipfel dieses Waldes, der stark mit Laubwald durchsetzt ist, nennt sich Schnitthilgenloh. Hier ragt das Moor weit in die höher gelegene Geest hinein und dort, wo Geest und Moor sich trennen, liegt ein landwirtschaftlich genutztes Anwesen. Das Haus, ein niedersächsisches Bauernhaus, ist mit Reet eingedeckt und hat keinen Schornstein. Umgeben ist es mit einem kleinen Bestand an Kiefern, aus dem zwei große Tannen hervorragen. Eine Akazie und viele Obstbäume tragen in jedem Frühjahr mit ihrer Blütenpracht einen edlen Wettstreit aus. Zwei alte knorrige Eichen und eine Reihe von Silberpappeln grenzen den Hof im Westen ab.

An der Einfahrt zum Hof präsentieren sich ebenfalls zwei knorrige Eichen. Ein schweres, aus Eichenholz gezimmertes Tor grenzt das Gehöft von dem vorbeiführenden Weg ab, der nicht befestigt ist, in dem die Spuren der Wagenräder furchenartige Rinnen hinterlassen haben. Das Anwesen selbst liegt etwas abseits von drei weiteren landwirtschaftlichen Höfen, die ringartig zueinander stehen. Alle Anwesen liegen mehr oder weniger außerhalb der eigentlichen Ortschaft, die Lintel heißt und zu der Gemeinde Hude gehört, von der ich eingangs schon die alte Klosterruine erwähnt habe.

Wer hat dieses Stückchen Erde ausgesucht und warum wurde dieser Platz gewählt? Diese Frage können nur zwei Menschen beantworten, die im vorigen Jahrhundert es sich zur Aufgabe gemacht hatten, hier ihr Heim zu errichten, sich eine Existenz zu schaffen und ein gemeinsames Leben zu führen. Und warum wurde wohl dieser Platz gewählt? Ein von der Landschaft geprägter Mensch, der in einer Moorniederung aufgewachsen war, hat diesen Platz, der so nahe am Wald liegt und durch das angrenzende Moor stets an den Geburtsort erinnert, als den richtigen gefunden. Die zur Lebensgefährtin Auserkorene war ein Kind dieser Ortschaft und dürfte diese Wahl wohl unterstützt haben. Diese beiden Menschen waren meine Großeltern mütterlicherseits, Berend Galdas und Beta Margarete Galdas, geborene Osterloh.

Mein Großvater war Zimmermann und führte nebenbei eine Landwirtschaft, die wohl in der Hauptsache von der Großmutter bewirtschaftet werden musste. Als Zimmermann hat er am Bau des Hauses einen erheblichen Teil an Arbeit geleistet, und nach seinen Wünschen und Entwürfen wird es wohl errichtet worden sein. Auch die neben dem Haus liegende Zimmerwerkstatt dürfte nach seinen Plänen erbaut und eingerichtet worden sein.

Der Name Galdas, der im ganzen norddeutschen Raum laut Nachforschungen meines Vetters Hans Galdas nicht mehr vorkommt, hat seinen Ursprung im spanisch-französischen Grenzgebiet und ist mit den Hugenotten in den westdeutschen Raum gekommen, wo sich ein Teil dieser Emigranten angesiedelt haben. Leider ist mein Vetter, der Sohn meines Onkels Johann Galdas war, ohne einen männlichen Namensträger hinterlassen zu haben verstorben. Damit ist auch der Name Galdas ausgestorben.

Im Gegensatz zum im norddeutschen Raum vorherrschenden evangelischen Glauben bekannten sich die Galdas zu evangelisch-protestantischem Glauben. Mein Onkel Johann hob das stets besonders hervor. Wie die Galdas-Kinder, darunter auch meine Mutter Anna, aufgewachsen sind, darüber ist mir im Einzelnen wenig oder kaum etwas bekannt geworden. Zu früh musste die gute Mutter uns verlassen, ohne uns etwas aus ihrem Leben erzählen zu können. Es wäre gewiss viel gewesen.

Obwohl mein Großvater Zimmermann war, hat er beim Bau des Hauses auf das althergebrachte Fachwerk verzichtet, doch das Innere dem Althergebrachten voll angepasst. Die Außenmauern waren als Brandmauern hochgezogen. Ein großes Eingangstor gab den Weg auf die Diele frei, die aus getrocknetem Lehm bestand. Zu beiden Seiten der Diele befanden sich die Ställe, die noch als sogenannte Tiefställe angelegt waren. Über den Ställen befanden sich die Hillen, das sind eine Art Hängeböden, die unterhalb des Dachbodens angebracht waren und zur Aufnahme von Raufutter zum baldigen Verbrauch dienten.

Der größte Teil von Heu und Stroh sowie das ungedroschene Korn wurde auf dem Boden gespeichert. In mühevoller Arbeit musste es von der Diele aus durch eine große Bodenöffnung hinaufbefördert werden. Das war keine leichte Arbeit. Wir Kinder haben mithelfen müssen, das Heu auf dem Boden zu verstauen. Oft ging es dabei sehr lustig zu. Erntezeit war immer eine besondere Zeit. Sich im frischen Heu zu tummeln, brachte oft viel Freude.

Unmittelbar von der Diele gelangte man anschließend auf das „Füer“-Flett. Es war der Bereich des Hauses, in dem sich zu einem großen Teil das häusliche Leben abspielte. Dieser Bereich war ohne eine Trennwand unmittelbar mit der Diele verbunden. Der Fußboden war mit roten Ziegelsteinen in kleine Quadrate eingeteilt. Die freien Flächen dieser Quadrate waren mit kleinen Feldsteinen ausgelegt. Unsere Großmutter hat uns erzählt, dass sie die kleinen Feldsteine selbst gesammelt und zusammengetragen habe. Sie erzählte das mit einem gewissen Stolz. Durch zwei Seitentüren konnte man ins Freie gelangen. Die neben den Türen vorhandenen Fenster sorgten für Lichteinfall. Die Hauptsache auf dem Flett war die große offene Feuerstätte, daher rührt auch die Bezeichnung Füer-Flett.

Diese Feuerstätte war ringartig angelegt, mit einem Durchmesser von etwa zwei Meter, aus roten Ziegelsteinen gebaut und hatte eine Höhe von der Länge eines Ziegelsteines. In der Mitte befand sich eine Vertiefung mit einem Eisenrost, auf dem das Feuer unterhalten wurde. Durch einige Löcher in den Seiten des Aufbaus wurde dem Feuer die notwendige Zugluft zugeführt. Oberhalb dieser Feuerstätte unter der Bodendecke befand sich ein riesiger Rauchfang mit einem Durchmesser von etwa drei Meter, aus dem ein riesiger Schärhaken ragte. Dem Fremden wird die Bezeichnung Schärhaken in diesem Zusammenhang wenig sagen, darum will ich es etwas erläutern. Das Ganze ist ein Stück Eisen, das in der Mitte flach ausgeschmiedet und mit sägeartigen Einkerbungen versehen ist. Durch eine weitere Vorrichtung, die durch Bolzen mit dem Schärhaken verbunden ist, kann der daran befindliche Kesselhaken in die beliebige Höhe zum Feuer gebracht werden.

In diesem so aufgehängten Kessel wurde das tägliche Essen gekocht. Die Koch-und Wasserkessel bestanden vorwiegend aus Gusseisen. Emaille-Töpfe waren zu dieser Zeit noch wenig bekannt. Pfannengerichte wurden auf einem Dreibein, der über das Feuer gestellt wurde, zubereitet. Während der Nachtzeit musste die auf dem Feuerrost liegende Glut mit einer aus Flacheisen geschmiedete Feuerstülpe gesichert werden. Das war notwendig, weil sich die Katzen besonders in der Nähe der warmen Glut aufhielten.

Ich habe versucht, diese Feuerstelle ausführlich zu beschreiben. Ob mir das in allen Fällen gelungen ist, kann ich nicht sagen. Ich hoffe jedoch, dass sich der Leser daraus ein zusammenhängendes Bild machen kann. Wenn nicht, so möge er ein altes Museumsdorf besuchen. Dort wird er alles vorfinden und dort wird ihm auch das romantische Leben von damals vor Augen geführt. Wie sich dieses romantische Leben im Einzelnen gestaltete, darauf gehe ich in meinen weiteren Ausführungen noch ein.

Das Flett birgt noch andere Plätze, auf denen sich ein Teil des Lebens abspielte. Das sind die Seiten vom Flett, die man im Plattdeutschen allgemein als Hohwand bezeichnete. Von hier boten die Seitenfenster nicht nur einen Ausblick ins Freie, sondern sorgten auch wie schon angesprochen für einen ausreichenden Lichteinfall für die Sicht auf dem Flett.

In der rechten Hohwand stand ein großer Esstisch, dessen Holzplatte stets weiß gescheuert war. Vom Großvater selbst gezimmerte Stühle, deren Sitze mit Binsen geflochten waren, boten Sitzgelegenheiten. Außerdem stand dort eine große Truhe, aus Eichenholz gezimmert und mit kunstvollen Eisenbeschlägen versehen. Die Großmutter verbarg darin ihre Schätze, die zum größten Teil aus Ballen selbstgewebtem Leinen bestanden. In dieser Hohwand wurden auch die täglichen Mahlzeiten eingenommen.

In der linken Hohwand stand ebenfalls eine große Truhe aus Eichenholz mit ebenso kunstvollen Eisenbeschlägen. Auffallend aber war hier der große Webstuhl, der noch oft in Gebrauch genommen wurde. Meine Mutter und meine Großmutter haben darauf so manchen Meter Leinenstoff gewebt. Um darüber mehr erzählen zu können, muss ich zurückkommen auf den Platz neben der Feuerstätte. Hier standen zwei Spinnräder, je eines für die Mutter und eines für die Großmutter. Auf diesen Spinnrädern haben sie so manchen Meter Faden gesponnen, der zum Weben für das Leinen notwendig war.

Sie saßen dabei in großen gezimmerten Lehnstühlen, deren Sitze ebenfalls aus Binsen geflochten waren. Wenn Vater von der Arbeit gekommen war, er war zu der Zeit noch bei der Eisenbahn als Hilfswärter beschäftigt, setzte er sich in den Wintermonaten dazu und flocht Körbe aus Weiden oder auch Bienenkörbe aus Stroh. Die Bienenhaltung war ein Hobby für ihn, das zusätzlich noch Geld einbrachte. Alle diese Arbeiten wurden beim spärlichen Licht einer Petroleumlampe ausgeführt. Um dieses Bild zu vervollständigen, muss auch Karo genannt werden. Es war ein großer braungefleckter Hund, eine Art deutsche Dogge, der der Großmutter stets zu Füßen lag.

Vergessen werden darf auch nicht der Kinderwagen, der unweit der Feuerstätte seinen Platz hatte. Es war kein moderner Kinderwagen, nein, ein aus Weiden geflochtener Korb, der auf einem Gestell befestigt war, an dem sich mit Eisen beschlagene Holzräder befanden. Es war die Wiege, in der auch ich einst gelegen habe und vor mir vielleicht auch die Generation, zu der meine Mutter gehörte. Mein jüngerer Bruder war der letzte, der darin gelegen hat. Oft habe ich ihn darin hin und her schieben müssen. Ob ich das gerne gemacht habe, daran hege ich großen Zweifel. Ich weiß nur, dass meine Großmutter mir oft diese Tätigkeit abgenommen hat. Sie hatte darin eine besondere Übung, setzte einen Fuß auf eine Achse des Wagens und schob ihn mit einem Bein hin und her. Das Stricken oder eine andere Handarbeit vergaß sie dabei nicht.

Das Flett war nicht nur die Stätte, an der sich die ganze Familie aufhielt, die mit Anhang sehr groß war. Nein, hier war auch der Platz, wo sich einkehrende Nachbarn oder Bekannte niederließen. Ich erinnere mich dabei gerne an den Nachbar Abel. Wir als Kinder hatten den Vorzug, ihn „Opa Abel“ nennen zu dürfen. Er erzählte gerne mit meinen Eltern, wobei manche Pfeife Tabak geraucht wurde. Er war Soldat gewesen und hatte an dem Feldzug von 1870 bis 1871 teilgenommen und die Schlacht bei Sedan mitgemacht. Wir Kinder saßen dabei auf dem Rand der Feuerstätte und nahmen jedes Wort der Unterhaltung mit großer Begierde auf. Besonders sind mir die Kriegsgeschichten in Erinnerung geblieben.

Die Erzählung von Opa Abel, dass die Franzosen in der Schlacht bei Sedan rote Hosen getragen hätten, ist bei mir besonders haften geblieben. Da unser Vater auch gedient hatte und seine Erlebnisse aus dieser Zeit mit in diese Unterhaltungen einfließen ließ, erwachte ein besonderes Interesse bei mir. Besonders dann, wenn aus dem mitgemachten Kaisermanöver erzählt wurde. Auf diese Weise ist schon in meinen Kinderjahren der Wunsch wachgerufen worden, auch Soldat werden zu wollen.

Während der Unterhaltung wurden Äpfel am Feuer gebraten und Mutter richtete einen Grog her. Unsere Aufgabe war es, den Tabakkasten mit dem Krüllschnitt herumzureichen. All das geschah beim spärlichen Schein einer Petroleumlampe. Eine Unterhaltung am Kamin kann nicht besser sein. Eine solche kann nicht wieder diese alte Romantik zurückrufen. Wenn der Rauch aus der leicht glimmenden Glut langsam aufsteigt, sich zunächst in dem großen Rauchfang fängt und sich dort langsam unter der Bodendecke verteilt, die an Wiemen hängenden Vorräte an Speck, Schinken und Würsten umstreicht, durch die Bodenluke über dem Boden durch die Giebelfenster den Weg ins Freie findet, das ist wahre alte Romantik. Das sind Erinnerungen, die wach bleiben müssen und mit denen man sich gerne in die Jahre der Kindheit zurückversetzt. Ich möchte sie nicht missen.

In meiner Erzählung habe ich von dem vorhandenen Webstuhl gesprochen. Ihn zu beschreiben würde zu umfangreich werden, doch wert ist es schon, von dem gesponnenen Faden zu sprechen, der auf diesem Webstuhl zum Weben verwandt wurde. Gewonnen wurde der Faden aus dem angebauten Leinen. Dieses wurde nach der Ernte gebündelt, getrocknet und dann einer umfangreichen Wäsche unterzogen, nachdem das Leinenstroh mehrere Wochen im Wasser gelegen hatte. Nach der Wäsche erfolgt wieder die Trocknung und anschließend das Brechen der Leinenstängel.

Zum Brechen benötigte man die Brake. Die in den Stängeln befindlichen Fasern wurden dabei frei. Das auf diese Weise gewonnene Fasermaterial wurde mit einem besonderen Kamm ausgekämmt. Die auf diese Art gewonnenen sauberen Fasern wurden zu sogenannten Wocken zusammengenommen und dann zum Faden gesponnen. Das Brechen und Auskämmen besorgte der Vater, die anderen Arbeiten verblieben für die Mutter und für die Großmutter. Die Mutterpflichten wurden dabei nicht vernachlässigt. Wir haben oft dabei zugesehen, wenn die Mutter und die Großmutter sich die Spulen mit dem Webfaden zuwarfen. Das Leben war zu dieser Zeit noch recht spartanisch. Es vollzog sich in ruhigen und geregelten Bahnen, doch in keinem Vergleich mit der heutigen Lebensauffassung und den an das Leben gestellten Ansprüchen.

Der Name Karo wurde in meiner Schilderung schon genannt, ich muss ihn nochmal nennen. Er wurde zu unserem Bedauern fortgegeben und kam zu einem bekannten Bauern nach Hude. Aus Heimweh kehrte er noch einmal zurück. Seine Kette hatte er hinter sich her geschleift und sich damit in einer Hecke verfangen, die das Grundstück von dem des Nachbarn trennte. In dieser Lage hat ihn der Vater gefunden, als er am Morgen den Weg zur Arbeit antrat. Der neue Besitzer hat ihn wieder abgeholt. Wir Kinder hätten ihn lieber behalten. Sein Nachfolger war Ponto, ein gelbbrauner Bastard, der seine Bewachungspflichten nicht allzu ernst nahm. Lieber jagte er in freier Wildbahn hinter Hasen hinterher.

Das Leben auf der Diele hing mit dem Leben auf dem Flett in gewisser Hinsicht zusammen. Es ist insofern zu erwähnen, weil Diele und Flett nicht getrennt waren und somit einen Bereich bildeten. Hier wurde das Korn noch mit dem Dreschflegel gedroschen. Das Vieh wurde von der Diele aus gefüttert, ohne moderne Futteranlage und ohne moderne Tränke. Jedes Stück Vieh bekam das Heu sauber aufgelockert vorgeschüttet und jedes Stück wurde einzeln aus einem Eimer mit Wasser versorgt.

Diese Arbeiten oblagen vorwiegend der Mutter und der Großmutter, denn Vater ging noch der Beschäftigung bei der Bahn nach. Wenn er zurückkam, wurde oft noch eine Lage Korn gedroschen. Die Korngarben waren vorher auf der Diele ausgelegt worden. Mit einem munteren Klipp-Klapp ging es über die ausgelegten Garben auf und ab. Die Kühe im Stall schauten dem Treiben zu und langten begierig nach einer Ähre, die in ihre Reichweite kam.

Oft ist es dabei spät geworden. Einen Tag mit nur acht Stunden Arbeitszeit kannte man nicht, weder am auswärtigen Arbeitsplatz noch zu Hause. Das Leben bestand für die Eltern nur aus Arbeit und verlangte von ihnen den vollen Einsatz, denn inzwischen war die Kinderschar auf fünf muntere Buben angewachsen. Vater musste morgens schon sehr früh fort. Wann die Eltern zur Ruhe kamen, haben wir selten erfahren. Unsere Mutter sorgte dafür, dass wir Kinder rechtzeitig zur Ruhe kamen. Nie versäumte sie es, mit uns das Abendgebet zu sprechen.

Geschlafen wurde in Alkoven, in denen sich die Betten befanden. Wenn wir morgens wach wurden, war der Vater schon lange fort. Die Mutter hielt zu dem Guten-Morgen-Gruß stets einen Esslöffel Lebertran als Morgentrunk für uns bereit. Ohne Widerwillen wurde dieser Trunk von uns genommen. Um unsere Gesundheit war unsere Mutter stets besorgt. Ob wir Kinder damals noch einen anderen Geschmack gehabt haben? Das ist eine Frage, die ich heute nicht mehr beantworten kann, es muss wohl so gewesen sein. Auch das damals aus Sparsamkeitsgründen zum Braten von Bratkartoffeln viel verwendete Rüböl hat uns stets gut geschmeckt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass unser Vater mit dem geernteten Rübsam bis in das übernächste Nachbardorf ging, in dem sich eine Ölschlägerei befand. Von dort brachte er für den Samen Rüböl heim. Nahrungsmittel, die nicht auf der eigenen Scholle angebaut werden konnten, kosteten Geld und das musste durch schwere Arbeit verdient werden.

Ich habe das Wort Alkoven in meinen Ausführungen gebraucht. Diese Bezeichnung ist nur noch wenig bekannt. Diese Art Schlafstätte wird selbst in alten Niedersächsischen Bauernhäusern kaum noch vorgefunden. Der Zug der neuen Zeit und der Drang zu neuen Dingen haben sie verdrängt. Mit diesen Alkoven müssen die Dönze in Verbindung gebracht werden, die hinter dem Flett lagen und auch nur vom Flett aus Zugang hatten. An den Außenseiten der Dönze befanden sich die Alkoven, die mit schottenartigen Türen am Tage verschlossen waren. Indirekt bildete alles eine Einheit. Die Bezeichnung Zimmer wäre hier verständlicher gewesen, doch wer von Alkoven spricht, muss auch wissen, was eine Dönz ist.

Wie alles, so war auch die Einrichtung dieser Räume sehr einfach gehalten. Ein großer Tisch und sechs Stühle, deren Sitze aus Binsen geflochten waren, bildeten die Haupteinrichtungsgegenstände. Ein Schreibpult mit Aufsatz und eine Kommode, die mit einer Häkeldecke bedeckt war, und ein Sofa gehörten zur weiteren Einrichtung. Der Ofen bestand aus gusseisernen Platten mit großen eingegossenen Verzierungen. Die obere Abdeckplatte war einfach gehalten, die Befeuerung erfolgte vom Flett aus. Das andere Zimmer, oder bleiben wir bei der Bezeichnung Dönz, war etwas besser ausgestattet. Darin befand sich die Ausstattung, die meine Mutter zu ihrer Eheschließung bekommen hatte.

Unsere Eltern und Großeltern würden staunen, wenn sie die Einrichtungen sehen würden, in denen wir heute leben. Sie hatten in dieser Hinsicht keine Probleme – mit dem, was sie hatten, waren sie zufrieden. Wir Kinder waren auch zufrieden. Obwohl alles einfach gehalten war, in manchen Dingen etwas spartanisch, war es unser Heim, in dem wir uns wohl und geborgen fühlten. Geborgen auch noch mit der Großmutter und teilweise noch mit den Kusinen Bertha und Hermine, die zeitweilig mit in der Familie lebten.

Bis hierher habe ich vorwiegend von der Arbeit im Hause geschrieben. Die umfangreichen Außenarbeiten, die in jedem Frühjahr begannen und bis in den Spätherbst andauerten, verlangten auch den vollen Einsatz der Mutter und der Großmutter. Es wird nicht immer leicht für diese beiden Frauen gewesen sein, besonders dann nicht, wenn es galt, die Äcker zu bestellen. Heute würde uns die Art der damaligen Feldbestellung so rückständig vorkommen, dass man sich in das Mittelalter zurückversetzt fühlen würde. Es sind erst etwas mehr als 70 Jahre vergangen, als die Mutter mit den vor den Pflug gespannten Kühen am Halfter führte und die Großmutter den Pflug leitete. Der Pflug, aus Eichenholz gezimmert, mit einer aus Eisen geschmiedeten Pflugschar versehen, war für uns Kinder ein besonderes Anschauungsstück. Mit den Kühen wurde auch die Ernte eingefahren, die damals allerdings noch nicht so umfangreich war.

Schon mit Beginn des Sommers fielen Arbeiten an, zu denen wir mit herangezogen wurden. Teilweise hatten wir auch Freude daran und in vielen Fällen auch Spaß. Das gewebte Leinen musste an den Sommertagen zum Bleichen ausgelegt werden. Das erfolgte auf der neben dem Hause liegenden Wiese, die allgemein auch als Bleiche bezeichnet wurde. Unsere Arbeit bestand darin, das ausgebreitete Leinen in laufenden Abständen mit Wasser zu besprengen. Der Spaß bestand darin, dass wir barfuß liefen, denn beim Sprengen mussten wir über das ausgebreitete Leinen laufen. Wasser schafften die Mutter und die Großmutter in ausreichenden Mengen herbei. Gießkannen kannten wir nicht. Eine Kelle aus Kupfer tat es auch. Sparsamkeit war überall oberstes Gebot. In unserer freien Zeit war die Bleiche unser Tummelplatz. So manche Stunde haben wir darauf verbracht.

Schon früh hatte ich ein besonderes Interesse an der Vogelwelt. Die Lerchen waren stets die Vögel, die mich am meisten in ihren Bann zogen, wenn sie mit ihrem Gesang himmelwärts strebten. Neben den Lerchen und der anderen vielartigen Vogelwelt waren der Kiebitz, der Kuckuck, sowie die Schnepfen die Vögel, die mich besonders interessierten. Während die Rufe der Kiebitze uns morgens begrüßten, war es abends die Himmelsziege. Das ist eine Schnepfenart, die während des Fluges das Geräusch einer meckernden Ziege von sich gibt. Nebenbei interessierten uns die vielen Wiesenblumen wie Wiesenschaumkraut, Sumpfdotterblumen und andere. Viele haben wir davon gepflückt. Hätten wir eine Schwester gehabt, sie hätte uns vielleicht einen Kranz daraus gebunden. Wir waren dazu zu ungeschickt. So blieben sie am Wiesenrand liegen.

Von dem Hobby unseres Vaters, die Bienenhaltung, habe ich schon berichtet. Für uns war das weniger ein Hobby. Im Sommer, wenn die Bienen schwärmten, war es unsere Aufgabe aufzupassen, dass kein Schwarm davonflog. Zu verhindern suchte man es, indem man viel Lärm schlug. Dazu diente ein großer Topfdeckel aus Messing, gegen den man mit einem Stück Holz trommelte. Wenn das nicht zum Erfolg führte, mussten wir mit einer Wasserkelle Wasser in den fliegenden Schwarm spritzen, damit die Bienen flugunfähig wurden.

Die meisten Schwärme haben wir auf diese Weise zur Ruhe bringen können. An einem der vielen Obstbäume ließen sie sich an einem der größeren Zweige nieder und fanden sich in einem traubenartigen Gebilde zusammen. Wenn der Vater abends von der Arbeit heimkehrte, fing er den Schwarm mit einem vorbereiteten Bienenkorb ein. Kam der Vater später, dann besorgte die Mutter das Einfangen. Sie kannte sich auch gut mit der Bienenhaltung aus. Wir Kinder haben so manchen Bienenstich hinnehmen müssen. Dicke Backen und geschwollene Augen waren keine Seltenheit.

Von der Bleiche neben dem Haus gibt es noch einiges zu sagen. An einigen Stellen war noch Moorboden vorhanden. Vater hat darauf Torf gestochen. Diese Arbeit verrichtete er nach Feierabend, wenn er seinen Dienst bei der Bahn verrichtet hatte. Die getrockneten Soden mussten, wenn sie etwas angetrocknet waren, zu Ringen aufgesetzt werden. Das war wieder eine Arbeit für uns. Für die offene Feuerstelle und auch für die Öfen war das ein gutes Brennmaterial. Holz wurde weniger verfeuert. Das anfallende Buschholz wurde vorwiegend zum Beheizen des Backofens benötigt, der neben dem Hause stand.

Das Leben aus jener Zeit kann nicht mit dem heutigen verglichen werden. Da wirft sich die Frage auf, ob es noch lebenswert war, zumal es nur aus mühevoller Arbeit bestand. Unsere Eltern und wohl auch unsere Großeltern haben sich diese Frage nie gestellt. Sie haben es als lebenswert empfunden und so hingenommen, wie es ihnen vorgezeichnet war und wie es sich ihnen darbot. Trotz der wenigen freien Zeit wurden die Verbindungen zu allen Verwandten und Bekannten nicht nur aufrechterhalten, sondern auch sehr gepflegt. Die gegenseitigen Besuche waren dafür das beste Beispiel. Es waren Stunden der Entspannung, in denen man die tägliche Mühsal hinter sich ließ. Entfernungen boten dabei kaum Hindernisse, obwohl alle Wege zu Fuß zurückgelegt werden mussten.

Eine besondere Freude war es, wenn Tante Adeline und Onkel Christopher aus Moorriem kamen, und ganz besonders groß war die Freude, wenn die Tante Bertha kam, die Krankenschwester in Köln war. Sie kam stets in Schwesterntracht und blieb oft einige Tage. Mit vielen neugierigen Fragen wurde sie von uns überhäuft. Sie war für uns ein Idol besonderer Art. Mit viel Liebe und Hingabe war sie bei ihren Besuchen stets für uns da.

Unsere Kusinen Bertha und Hermine Galdas, die in unserem Leben besonders in den Jahren der frühen Kindheit auch eine wesentliche Rolle spielten, waren zeitweise noch in Lintel. Wann sie von dort fortgegangen sind, weiß ich nicht mehr genau. Auf alle Fälle waren sie noch in Lintel, vielleicht auch nur zufällig, als ich mit sechs Jahren eingeschult wurde. Auf meinem ersten Schulweg haben sie mich begleitet.

Ich habe angedeutet, dass alle Entfernungen zu Fuß überwunden werden mussten. Wir sind somit früh an weite Fußwege gewöhnt worden. Wenn die Mutter zu ihrer Schwester, unserer guten Tante Adeline, nach Moorriem wollte, war das trotz der weiten Entfernung ein Weg, auf dem wir nie müde wurden. Einige Wege sind mir davon noch in guter Erinnerung geblieben. Sie führten durch die heimatlichen Wiesen des Nachbarn Haverkamp, dann durch Wüsting und durch die Wiesen und Weiden des Wüstenlandes.

Das schönste Ereignis war dabei das Übersetzen über die Hunte. Ein Anwohner auf der anderen Seite der Hunte hatte ein Boot und versah damit einen kleinen Fährverkehr für Personen. Mit der Mutter riefen wir gemeinsam im Chor: „Hol over“, was auf Hochdeutsch bedeutet: „Hol uns herüber“. Dann erschien auf der anderen Seite auf dem Deich der freundliche Fährmann. Als Entgelt wurden zehn Pfennige entrichtet. Für uns fiel bei der kurzen Einkehr dort eine Brause ab, die wegen des Farbeffekts rot sein musste. Anschließend ging die Wanderung weiter durch das Moorriemer Land. Die Rufe der Kiebitze haben uns dabei stets begleitet. Manchmal mischte sich auch der Regenpfeifer ein.

Das kleine Haus von Tante Adeline und Onkel Christopher war ein Juwel. Viele schöne Stunden haben wir dort verbracht. Unsere Mutter hielt sich gerne dort auf. Es war die einzige Schwester, die sie noch in Deutschland hatte und in Abständen sehen konnte. Zurück ging es den gleichen Weg. Etwas wehmütig war dann der Abschied von der guten Tante. Wenn es auf dem Rückweg nahe am Brookdeich vorbei ging, blieb das Elternhaus vom Großvater, das fast in Sichtweite stand, in Sichtweite liegen, ohne noch eine Einkehr zu machen. Die Zeit reichte dazu dann nicht mehr aus.

In jenen Jahren kam der Besuch aus Amerika. Es waren zwei von den drei in Amerika lebenden Schwestern. Welche Tanten es waren, kann ich heute nicht mehr sagen. Auch der Anlass, der zu diesem Besuch geführt hat, ist mir unbekannt. Ich vermute aber, dass der Tod unserer Großmutter Oma Galdas, die im Juli des Jahres 1903 verstorben ist, ein Anlass gewesen ist. Es war das Jahr, in dem ich Ostern eingeschult worden bin und zu der Zeit sechs Jahre alt war.

An das Ableben der Oma Galdas habe ich nur vage Erinnerungen, von den Besuchen der Tanten umso größere. Es war eben kein alltägliches Ereignis und ragte auch weit über andere Dinge und auch über andere Besuche hinaus. Sie brachten Dinge mit, die uns fremd waren. Ob Mutter zu der Zeit etwas Sehnsucht zurück nach Amerika gehabt hat, wer weiß das schon. Ich muss es annehmen, denn so viel weiß ich noch, dass das Verhältnis unter den Schwestern ein sehr herzliches war. Immerhin hatte die Mutter mehr als fünf Jahre gemeinsam mit ihnen in Amerika gelebt. Die Unterhaltungen wurden entsprechend vielseitig und zum Teil in englischer Sprache geführt. Unsere Mutter scheint auch eine Vorliebe für die englische Sprache gehabt zu haben. An mehreren Gegenständen wie Gabel, Messer und Tisch hat sie uns erklärt, wie diese auf Englisch heißen. Ich muss annehmen, dass die Tanten zu der Zeit schon in Amerika verheiratet waren und in guten Verhältnissen lebten.

Kinderohren nehmen schon in jungen Jahren viel auf und besonders dann, wenn von ihnen die Rede ist. Soweit von mir die Rede war, wurde der von mir einzuschlagende Lebensweg eingehend besprochen. Eine Tante, es muss Tante Gesine gewesen sein, sah mich im Geiste schon als Advokat und nannte mich oft den kleinen Advokaten. Die Bedeutung dieses Wortes war mir damals vollkommen fremd. Mein um ein Jahr älterer Bruder Bernhard sollte Lehrer werden. Ich habe später von meiner Mutter und auch von der Tante Adeline erfahren, dass das für uns vorbestimmte Berufe werden sollten und dass an der Verwirklichung die in Amerika zu Wohlstand gekommenen Tanten sich beteiligen wollten, um unsere Eltern zu entlasten.

Aus welchen Gründen sich diese Tanten so für unsere bildungsmäßige Förderung einsetzen wollten, ist eine Frage, die nur andeutungsweise beantwortet werden kann. Die Beantwortung liegt in Vermutungen, die der Wahrheit sehr nahekommen. Wahrscheinlich sollte damit ein Dank abgestattet werden, weil die Mutter sich dazu bereitgefunden hatte, nach Deutschland zurückzukehren. Im ursächlichen Zusammenhang spielte der Tod von Onkel Claus und das Ableben von dessen Frau wohl die Hauptrolle. Die Großeltern standen in ihrem Alter plötzlich alleine, denn Onkel Claus war dadurch als Erbe auf dem Hof ausgefallen. Onkel Johann hatte sich für die Beamtenlaufbahn entschieden und stand zu der Zeit schon im Vorbereitungsdienst beim Zoll. Dadurch fiel das Los auf unsere Mutter, die von Amerika zurückkam und pflichtbewusst die Pflege ihrer alten Eltern und auch das elterliche Anwesen als Erbe übernommen hat.

Fest stand zu der Zeit, dass alle Tanten von dem Leben in Amerika sehr angetan waren und inzwischen alle die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben hatten. Sie kehrten seinerzeit nicht alleine nach Amerika zurück. Zu unserem Bedauern hatte sich auch unsere Tante Bertha für eine Auswanderung nach Amerika entschieden. Wir haben sie oft vermisst. Den Beruf als Krankenschwester hat sie in Amerika wieder aufgenommen. Die Verbindungen blieben durch einen regen Briefwechsel erhalten.

Nicht so rege war der Verkehr mit unserem Onkel Johann. Er kam selten, wahrscheinlich wegen der großen Entfernung. Er stand anfangs im Zolldienst an der holländischen Grenze, später in Sandstedt an der Weser, und war von dort nach Züllichau versetzt worden. Unser Vater verstand sich gut mit ihm. Er trug eine gutaussehende Uniform mit diesem Interimsrock, der früher von den Offizieren getragen wurde.

Nach diesen Ereignissen änderte sich einiges im Hause. Vater gab seine Beschäftigung bei der Eisenbahn auf und fing an, die noch unkultivierten Flächen urbar zu machen. Diese waren zur Vergrößerung des Anwesens mit der Übernahme von dem Hof erworben worden mit dem Ziel, das Anwesen nur landwirtschaftlich zu nutzen. Die dadurch anfallenden Mehrarbeiten konnten nicht mehr mit den Kühen bewältigt werden. Deshalb wurde ein Pferd angeschafft. Es war eine dunkelbraune Stute, sehr fromm, auf der wir bei jeder Gelegenheit reiten konnten.

Auch im Hause musste eine Veränderung vorgenommen werden. Der Mehranbau von Getreide machte die Anschaffung einer Dreschmaschine erforderlich. Das brachte wiederum feuerpolizeiliche Probleme mit sich. Das erste Opfer war die Beseitigung der offenen Feuerstätte. Auch der Webstuhl wurde ein Opfer dieser Zeit. Anfangs wurde mit einem Herd vorliebgenommen, der an der Stirnseite vom Flett seinen Platz fand. Der große Rauchfang musste nach wie vor seinen Dienst tun. Er blieb noch erhalten, allerdings musste der große Schärhaken daraus entfernt werden.

Offenbar war das feuerpolizeiliche Problem damit noch nicht gelöst, dann aber einer Lösung zugeführt, indem aus der rechten Seite vom Flett eine Küche und auf der linken eine Schlafkammer ausgebaut wurden. Nicht betroffen von dieser Veränderung wurde eine an der Diele liegende Kammer, in der zu der Zeit mein Bruder Bernhard und ich schliefen. Früher hatten darin meine Kusinen Bertha und Hermine Galdas geschlafen. Auch dieser Raum fiel später einer Veränderung zum Opfer. Er wurde zur Erweiterung der Ställe benötigt.

Mir ist damals nicht verborgen geblieben, dass die Mutter alles mit etwas Wehmut betrachtet hat. War es die Trennung von dem Althergebrachten, der mit den Bauarbeiten entwickelte Staub, oder waren es die ersten Anzeichen ihrer späteren ernsthaften Erkrankung? Durch den beim Abriss des Rauchfangs entstandenen Staub, den sie eingeatmet hatte, erlitt sie schwere Hustenanfälle. Ich habe die Mutter nie klagen gehört, doch dieses Bild habe ich so tief in meinem Inneren aufgenommen, dass ich es nie vergessen werde. In der Behandlung von Kinderkrankheiten kannte sie sich gut aus. Sie war praktisch eingestellt und hatte stets ein Mittel bereit, das sie selbst aus den gesammelten Heilkräutern zubereitet hatte. Für sich selbst hat sie keine heilenden Kräuter finden können.

Das Haus blieb als Rauchhaus erhalten. Der Rauch vom Küchenherd wurde auf das Flett geleitet. Die Speckseiten, die Schinken und die Würste wurden an Wiemen vom Rauch umstrichen. Neben dem Hause entstand die Göpel-Anlage, von der die Dreschmaschine durch Pferdekraft angetrieben wurde. Diese Pferdekraft leistete die gute Fanni, denn so nannten wir das Pferd, von dem ich schon sprach.

Haben alle diese Erneuerungen und die damit verbundenen Arbeiten der Mutter, die nicht groß und etwas zierlich von Statur war, zu viel Kraft abverlangt? Ich kann diese Frage weder positiv noch negativ beantworten, doch aus einer Unterhaltung, die ich später mit Tante Adeline und Onkel Christopher geführt habe, muss ich den Schluss ziehen, dass sie in gesundheitlicher Hinsicht stark überfordert worden ist.

Hier möchte ich einfügen, dass unsere Mutter dem Leben gegenüber immer positiv eingestellt war. Das beweisen die steten Spaziergänge, die sie an den Sonntagen mit uns unternahm. Im Frühling und Sommer führte dieser Weg in den Schnitthilgenloh, wo sich eine natürliche Quelle befand, die allgemein als Naturwunder angesehen wurde. In den dort stehenden Buchen waren in den Rinden viele Buchstaben eingeschnitzt, die sie eifrig studierte. Waren es ihre Kindheitserinnerungen, die sie wieder wachrufen wollte? Es muss wohl angenommen werden, denn an einige erinnerte sie sich. Im Frühjahr wurde bei diesen Spaziergängen Waldmeister gepflückt. Im Übrigen war sie sehr wanderlustig, war gerne draußen in der Natur und an allen Kräutern, die am Wegesrand standen, interessiert.

Die Kulturbarmachung der noch unkultivierten Flächen wurde vorangetrieben. Behilflich dabei war der Bruder unseres Vaters, Onkel Hinrich. Dadurch entstanden auch zusätzliche Ausgaben für künstlichen Dünger, die sich finanziell belastend auswirkten. Wir Kinder haben darunter jedoch nicht gelitten. Im Gegenteil. Die Eltern boten uns, was sie konnten, obwohl die sonst übliche spartanische Lebensführung fortbestand.

Im Dorf wohnte ein Landwirt, Busch hieß er, der sich nebenbei als Dorfmusiker betätigte. Dieser arrangierte auch Tanzlehrgänge für Kinder. Wir haben daran teilnehmen dürfen und bei den Klängen einer Geige unsere ersten Tanzschritte geübt. Der Abschluss war der Kinderabtanzball, der mit einer großen Kaffeetafel im Saal eingeleitet wurde. Anschließend wurde unter den kritischen Augen der Eltern getanzt. Für die Eltern waren es Stunden der Erbauung. Sie brauchten auch eine Loslösung von den Lasten des Alltags.

Üppig war niemand gestellt, besonders nicht in Bezug auf Kleidung. Vater trug seinen besten Anzug, den er höchstens zweimal im Jahr anzog. Unsere Mutter trug einen schwarzen Rock und dazu eine schwarz und rot gestreifte Bluse mit Keulenärmeln. Sie sah darin gut aus. An solchen Tagen zwirbelte Vater seinen Schnurrbart besonders auf und trug zu diesem Zweck schon vorher einige Stunden eine Bartbinde. Beide Eltern stellten ans Leben nur geringe Ansprüche. Vater, der sich sonst mit einer Pfeife Tabak begnügte, rauchte dann schon mal eine Zigarre.

Im Gegensatz zu unserer Mutter war unser Vater im Allgemeinen etwas ernsterer Natur. Zu uns Kindern war er gut, doch wie mit unserer Mutter kamen wir kaum mit ihm ins Gespräch. Vielleicht lag es an seinem Leiden, er litt unter Asthma. Vielleicht ist auch die beginnende Krankheit der Mutter nicht ohne Einfluss auf seine Stimmung geblieben? Die Umstände sprachen dafür. Ihm war wohl bekannt, dass die lebensbedrohende Krankheit das Ende für die Mutter sein würde.

Von meiner Einschulung habe ich bereits berichtet. Wie es in der Schule weiter ging, davon anschließend einiges. Das Lernen bereitete mir keine Schwierigkeiten. Rechnen konnte ich gut, teilweise hatte ich Freude daran. An dem damals noch viel geübten Schönschreiben hatte ich weniger Freude. Unser Lehrer Adolf Poppe, ein Sohn des Heimatdichters Franz Poppe, regierte autoritär. Der Stock kam dabei oft zu Ehren, geschadet hat es niemand. Zu meinen Eltern pflegte er ein nachbarschaftliches Verhältnis, welches manchmal allerdings etwas getrübt war.

Zu Hause gab es mit der Zeit auch Arbeit für uns. Anfangs waren es noch leichtere, doch später wurden daraus Pflichten. Der Viehbestand war vergrößert worden. Die Kühe, die während der Sommerzeit nachts und während der heißen Mittagszeit im Stall gehalten wurden, mussten wir aus- und eintreiben. Grund für die Stallhaltung war allerdings die Gewinnung von Stalldünger, der dringend benötigt wurde.

Notwendig waren auch zusätzliche Einnahmen geworden. Diese wurden in mehrfacher Hinsicht gesucht. Das bei der Kultivierung angefallene Buschwerk wurde nutzbar verwendet. Zu Bündeln gebunden wurde es nach Oldenburg gefahren und dort als Material für die Uferbefestigung an der Hunte verkauft. Der Abnahmeplatz war der Hafen in Oldenburg, der im Volksmund auch Stau genannt wurde. An solchen Fahrten, die sich oft wiederholten, durften wir teilnehmen. Erstmalig habe ich dabei die Stadt Oldenburg kennengelernt. Viel Interessantes bot sich meinen Augen und das besondere Interesse galt den vielen Soldaten in den bunten Uniformen. Nachdem das Holz abgeladen war, wurde der leere Wagen auf dem Marktplatz abgestellt und das Pferd in einem Stall untergestellt, der zu einer Gastwirtschaft gehörte. Dort wurden die mitgenommenen Brote verzehrt, und dabei fiel eine Flasche Brause für uns ab.

Unmittelbar an diesem Marktplatz befand sich die Schlosswache, vor der ein Posten stand, der wegen seiner bunten Uniform, seines blanken Helms und seines Gewehrs mein besonderes Interesse erweckte. Auch die vielen Gewehre, die unter einem Vorbau in Ständern standen, weckten meine Aufmerksamkeit. Gebannt wandte ich meinen Blick darauf.

Unerwartet erlebte ich dann einen Vorgang besonderer Art. Viele Soldaten kamen aus dem Wachgebäude gelaufen, nahmen die in den Ständern stehenden Gewehre, stellten sich in zwei Reihen auf und standen ganz still. Auch Soldaten mit Trommeln waren dabei. Auf ein lautes Kommando schlugen sie Wirbel auf den Trommeln. Die anderen Soldaten präsentierten mit dem Gewehr. Sie standen dabei in einer Linie, wie an einer Schnur ausgerichtet. Alle vorbeikommenden Passanten waren stehengeblieben und schauten dem Schauspiel zu. Vater, der Soldat gewesen war, hat mir den Grund dieser Zeremonie erklärt.

Zu der Zeit habe ich noch nicht ahnen können, dass ich an dieser Stelle auch mal stehen würde. In der Tat, ich habe hier auch später als Posten gestanden, in blauer Uniform, mit blank geputztem Helm und einem Gewehr, genau wie der Posten, von dem ich hier berichtet habe. Soldat wollte ich werden, doch am liebsten bei der Kavallerie, die in den Kasernen in Osternburg lagen. Es waren die 19. Dragoner. Mich interessierten die schönen Pferde und die hellblauen Uniformen. Auf den weiten Fahrten nach Oldenburg haben wir sie oft getroffen. Es war stets ein schönes Bild, wenn sie uns auf der Bremer Chaussee entgegen geritten kamen. Die Pferde schön ausgerichtet. Mit der linken Hand hielten die Soldaten die Zügel, und in der Rechten die Lanze mit der Spitze nach oben, an der sich ein Wimpel mit den Landesfarben befand. Das untere Ende der Lanze steckte in einer Halterung, die sich am rechten Steigbügel befand. So zogen sie vorbei zu ihren Übungen, eine lange Staubwolke hinterlassend. Das sind unvergessene Bilder aus jener Zeit, als es noch eine Ehre bedeutete, der Obrigkeit in den schönen Uniformen dienen zu dürfen.

Auf dem Hof war inzwischen die Arbeit für ein Pferd zu viel geworden. Vater kaufte ein zweites dazu. Es war ein junges Pferd, welches noch angelernt werden musste. Wir Kinder hatten uns schnell mit dem jungen Pferd angefreundet. Besonders glücklich waren wir darüber, dass es sich gleich reiten ließ. Vater hatte dagegen keine Einwendungen. Er sagte nur: Ihr werdet schon merken, wenn ihr herunterfallt. In Zukunft mussten zwei Pferde von der Weide geholt werden, natürlich ging es auf dem Rücken der Pferde nach Hause. Heruntergefallen sind wir oft von dem jungen Pferd, doch das Reiten haben wir als Kinder dabei auch gelernt.

Das junge Pferd ist nur von uns Kindern zugeritten worden, so dass Vater später gut darauf reiten konnte. Das war dann der Fall, wenn Vater damit zur Deckstation nach Holle ritt. Vater hatte beim Kauf des zweiten Pferdes eingeplant, dass es in jedem Jahr ein Fohlen werfen musste. Aufsehen erregten wir oft, wenn wir mit zwei Pferden nach Oldenburg fuhren. Das junge Pferd, das den Stadtverkehr nicht kannte, wurde oft recht übermütig und tänzelte vor dem Wagen. Das erweckte bei einigen Offizieren Aufmerksamkeit, sie fanden Interesse an dem jungen Tier und wollten es kaufen. Damals mussten die Offiziere, besonders bei der Kavallerie, noch ein eigenes Pferd halten.

Aus dieser Zeit ist mir noch eine Fahrt nach Oldenburg in Erinnerung geblieben, bei der uns mehrere Kompanien der Infanterie entgegenmarschiert kamen. Vater wollte nicht gerne anhalten, um das junge Pferd in Bewegung zu halten. Plötzlich trat ein Führer dieser Soldaten an Vater heran und forderte ihn mit den Worten „Sie halten ja das ganze Regiment auf“ zum Halten. Ich habe derweil das Pferd am Halfter gehalten und beruhigt. Die Soldaten zogen vorbei in langen endlosen Kolonnen, eine Staubwolke blieb zurück. Lange habe ich diesen Soldaten nachgesehen, es ist noch heute für mich ein unvergessenes Bild.

Zu der Zeit boten sich viele Gelegenheiten, den Soldaten zuzusehen, wenn sie im Gelände übten. So manchen Beobachtungposten haben wir gespielt und den Soldaten verraten, wo sich die andere Partei versteckt hielt. Als Belohnung bekamen wir die leeren Hülsen von den Platzpatronen. Unser Lehrer Poppe, der auch Soldat gewesen war, ließ bei solchen Anlässen den Unterricht ausfallen und begab sich mit uns zu den übenden Soldaten. Er unterhielt sich mit ihnen und erklärte uns nachher den Zweck solcher Übungen. Das war stets eine große Freude und eine Abwechslung in dem sonst so stumpfsinnigen Verlauf des Unterrichts. Oftmals mussten wir über solche Ausflüge einen Aufsatz schreiben, das empfand ich als weniger schön.

Mit meinen Ausführungen bin ich in einigen Punkten etwas vorgeeilt. Nachzuholen wären die Fahrten zum Kramermarkt nach Oldenburg, die alljährlich während der Herbstferien an einem Mittwoch unternommen wurden, seitdem ein Pferd auf dem Hof war. Dabei wurden Kartoffeln, manchmal auch Obst, besonders Pflaumen, mitgenommen und auf dem Markt zum Verkauf angeboten. Da Vater Bienen hielt, wurde auch stets Scheibenhonig mitgenommen. Abnehmer waren reichlich vorhanden. Für Kartoffeln und Scheibenhonig waren die Abnehmer stets die gleichen. Während der Honig in ein in der Achternstraße liegendes Delikatessen-Geschäft wanderte, war der Abnehmer der Kartoffeln ein Schuhmacher-Meister Schwangel in der Ritterstraße. 

An solchen Fahrten nahm auch die Mutter stets teil. Nach einem gemeinsamen Einkauf mit dem Vater folgte der richtige Besuch auf dem Kramermarkt, der auf dem Pferdemarktplatz abgehalten wurde. 25 Pfennig standen uns zur Ausgabe zur freien Verfügung. Zusätzlich gab es eine Fahrt mit dem Karussell. Die Mutter kaufte Honigkuchen ein, der zu Hause als Brotbelag diente. Es sind Tage gewesen, die man sich oft und gerne in die Erinnerung zurückruft. Zu diesen Erinnerungen gehören auch die Fahrten mit dem Wagen nach Moorriem, die in jedem Sommer nach Einbringung der Ernte zu einer Regelmäßigkeit geworden waren, seitdem ein Pferd auf dem Hof gehalten wurde. Die weiten Wanderungen durch die Wiesen und Weiden des Wüsten- und des Moorriemer Landes fielen fort. Für diese Fahrten wurde ein offener Kutschwagen vom Nachbarn Abel ausgeliehen, der am Tage zuvor auf Hochglanz gebracht wurde. Auch das Geschirr des Pferdes wurde auf Hochglanz gebracht. Bei diesen Vorbereitungsarbeiten klang schon immer die Vorfreude durch.

In den frühen Morgenstunden, wenn der Morgennebel noch auf den Wiesen lag, ging es im munteren Trab am Reiherholz entlang, weiter über Neuenkoop, Berne, Huntebrück, und von dort in das weite Moorriemer Land. Zu der Zeit musste in Neuenkoop noch Straßenzoll und in Huntebrück noch Brückenzoll bezahlt werden. Einrichtungen längst vergangener Zeiten. In der Nähe von Huntebrück befand sich eine Bäckerei, in der der Einkauf von Pfeffernüssen nicht vergessen werden durfte.

In Moorriem erwarteten uns Tante Adeline und Onkel Christopher, die schon Ausschau gehalten hatten. Das Pferd wurde bei einem Nachbarn auf dem Hof untergestellt. Wir Kinder wurden von unseren Kusinen und unserem Vetter umsorgt. Es waren Bertha und Adele sowie Johann Drieling. Unsere Mutter dagegen genoss die Fürsorge ihrer Schwester. Vater und Onkel Christopher gaben sich einer regen Unterhaltung hin. Die Zigarren gingen an so einem Tag nicht aus. Onkel Christopher hatte davon einen guten Vorrat.

Unsere Mutter verstand sich mit ihrer Schwester sehr gut. Arm in Arm gingen sie in dem schönen Garten lange spazieren. Haben sie dabei an die Jahre ihrer Kindheit gedacht und sich darüber unterhalten, oder waren es Unterhaltungen anderer Art? Wahrscheinlich sind ihre Gedanken auch in die Vergangenheit und wohl auch nach Amerika zurückgewandert. Dafür sprach ein großes Familienalbum, das lange und mit vielen Kommentaren begleitet durchgesehen wurde. Die Photographien der in Amerika lebenden Schwestern fanden dabei besondere Beachtung. Die Gedanken der Mutter mögen dabei oft nach Amerika zurückgewandert sein.

Für uns Kinder war ein solcher Tag insofern etwas Besonderes, als wir mit unseren Kusinen Mädchen als Spielgefährten hatten. In den späten Nachmittagsstunden wurde die Rückfahrt angetreten. Für uns war der Tag viel zu früh vergangen, wohl auch für unsere Mutter, denn der Abschied von der Schwester war mit viel Wehmut begleitet. Unsere gute Fanni dagegen freute sich auf die Heimfahrt. Sie hatte es dann stets eilig und drang nach dem heimatlichen Stall. Der Hof in Lintel war an solchen Tagen nicht ohne Aufsicht. Entweder kamen die Kusinen Bertha und Hermine Galdas, oder es fand sich Bertha Hoffrogge bereit, die Tochter des Landwirts Heinrich Hoffrogge, mit dem uns eine entfernte Verwandtschaft verband.

Es hat sich auch manchmal ergeben, dass wir im Anschluss einer solchen Fahrt ein bis zwei Wochen bei der Tante in Moorriem bleiben konnten. Das waren kleine Vergünstigungen, die wir gerne angenommen haben. Bei solchen Aufenthalten wurden viele Entdeckungen gemacht. Auf fast allen der mit Reet gedeckten Bauernhäuser befand sich ein Storchennest. Die jungen Störche standen im Nest auf den Dächern. Die Alten sammelten fleißig Frösche, die in den Gräben und im sumpfigen Gelände reichlich vorhanden waren. In den Abendstunden klapperten sie im Wettstreit miteinander. Weiter galt es die Vogelwelt zu erkunden, davon besonders die Geheimnisse der vielen Schnepfen-Arten, die ihre Nester im Schilf der Gräben getarnt hatten. Zu dieser Zeit gingen die Mädchen in den frühen Morgenstunden noch zum Melken. Bei ihrem Aufbruch trommelten sie mitunter nach altem Brauch auf die Holzeimer, die an einem Joch getragen wurden.

Solche Wochen vergingen stets viel zu schnell. Die Tante brachte uns dann nach Lintel zurück. Dabei wurde wieder der alte Richtweg durch die Wiesen und Weiden durch das Moorrriemer Land und das Wüstenland benutzt. Es war der  gleiche Fährmann, der uns wieder mit dem Boot über die Hunte brachte.

Wenn wir auch nicht in Üppigkeit aufgewachsen sind, so bleibt doch zu sagen, dass unsere Kinderjahre trotzdem schön waren. Gewiss war alles einfach, man stellte keine hohen Ansprüche an das Leben. Mit dem, was uns die Eltern geben konnten, waren wir zufrieden, und wenn es zum Weihnachtsfest eine Apfelsine gab, die noch geteilt werden musste, war das die große Ausnahme. Das Geld war schwer zu verdienen. Die Eltern lebten uns das Leben entsprechend vor. Bescheidenheit und Sparsamkeit waren die Leitsätze. Das bezog sich auch auf die Kleidung. Da fällt mir wieder die Mutter ein, die, als sie schon etwas schwach war, an einem warmen Sonntagnachmittag vor dem Haus in einem Lehenstuhl saß. Sie trug dabei die Bluse mit den schwarzen und roten Streifen und dazu den langen schwarzen Rock. Es waren die Bluse und der Rock, die getragen wurden, wenn es zum Kramermarkt ging, und die Kleidung, die sie trug bei den Besuchsfahrten nach Moorriem, und die sie auch getragen hatte, als sie mit uns noch den Kinderabtanzball gefeiert hatte.

Das Bild vor dem Hause in Lintel ist eines der letzten, wo ich meine Mutter im Freien gesehen habe. Sie war durch ihre Krankheit schon so geschwächt, dass sie nur noch am Arm des Vaters gestützt in das Haus zurückgelangen konnte. So sind die Jahre vergangen, für uns Kinder wohl weniger bewusst, was unabänderlich war. Zu der Zeit haben wir das noch nicht erfasst, obwohl wir sahen, dass der Arzt sehr oft kam.

Dann wurde der Sohn von unserem Nachbarn Reil gebeten, aus der weit entlegenen Apotheke aus Berne Medizin zu holen. Er war der Einzige, der zu der Zeit schon ein Fahrrad besaß. So brach das Jahr 1908 an, für die Eltern nicht in froher Stimmung. Sie haben versucht, ihre Sorgen von uns fernzuhalten, doch verborgen blieb uns vieles nicht.

Hier bin ich mit meiner Niederschrift an einem Punkt angelangt, an dem die Krankheit der Mutter zeitweise kritischer wurde. Kritisch auch für den Vater. Zwar halfen Frauen aus der Nachbarschaft aus, doch wir Kinder, mein ältester Bruder und ich, mussten damals schon Arbeiten verrichten, die allgemein von Frauen verrichtet wurden. Das Melken der Kühe und andere Haus- und Gartenarbeiten wurden uns auferlegt.

Dass das kein Dauerzustand sein und bleiben konnte, wurde wohl eingesehen. So wurde Bertha Hoffrogge ins Haus genommen. Leider verunglückte sie an einem Sonntagnachmittag beim Schaukeln und brach sich ein Bein. Als Nachfolgerin kam eine Hermine Hempelmann aus dem Nachbardorf. Mit Beginn des Frühjahrs wurde der Zustand der Mutter ernster. Sie durfte nicht mehr im Alkoven schlafen. Ein Bett wurde für sie im Zimmer aufgestellt, weil der Arzt bessere Behandlungs- und Untersuchungsmöglichkeiten haben sollte.

Wir durften zu dieser Zeit das Zimmer weniger betreten, es sei denn, wenn die Mutter es wünschte. Sie sah sehr blass aus und das Sprechen fiel ihr sichtbar schwer. Der Gedanke, dass sie uns genommen werden konnte, ist uns, jedenfalls bei mir, nicht aufgekommen. Ich habe an den Arzt geglaubt und zwar stets in der Hoffnung, dass er helfen würde. Selbst als der Pastor Tiarks kam, der übrigens oft bei uns Einkehr hielt, habe ich den Gedanken noch zurückgedrängt, dass die Mutter uns genommen werden könnte.

Die Erntearbeiten waren im Rückstand, die Hackfrüchte und besonders die angebauten Bohnen neben dem Hause waren voll Unkraut. An einem warmen Sommertag hatte der Vater uns aufgegeben, die angepflanzten Bohnen zu jäten und anzuhäufeln. Der Nachmittag war schwül. Als wir noch bei dieser Arbeit waren, rief der Vater uns unerwartet herein. Er ging mit uns in das Krankenzimmer der Mutter und blieb mit uns vor dem Bett stehen, welches zu dieser Zeit das Sterbebett der Mutter werden sollte.

Ich kann nicht sagen, ob sie uns noch wahrgenommen hat. Sie lag ruhig im Bett mit geschlossenen Augen. Vater nahm uns zur Seite und sagte, dass unsere Mutter für immer eingeschlafen sei. Es war der 21. Juli des Jahres 1908, ein Tag in unserem jungen Leben, an dem wir so vieles verloren hatten.

Die Frage ist für uns Kinder unbeantwortet geblieben, welche Sorgen sich die Mutter in den letzten Tagen und Wochen, ja sogar Monaten um uns gemacht hat. Sie hat sie still ertragen und mit in Ihr Grab genommen. In der Blütezeit ihres Lebens musste sie Abschied nehmen von fünf Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren.

Vielleicht liegt die Beantwortung dieser Frage in einem Erlebnis, das ich zusammen mit meinem Bruder Bernhard mit unserer Kusine Bertha Galdas hatte. Wir schliefen schon seit längerer Zeit in der Kammer an der Diele. Unsere Mutter lebte noch, doch ihr Zustand muss wohl Grund zur Sorge gegeben haben. An einem Abend trat unsere Kusine Bertha ein, kam zu uns ans Bett und sprach vor dem Einschlafen das Abendgebet mit uns. Sie nahm uns anschließend in die Arme und sagte, dass wir nicht traurig, sondern tapfer sein möchten. Dann verließ sie still die Kammer.

Dieses Erlebnis ist mir heute noch so gegenwärtig, als wenn es erst vor kurzem gewesen ist. Ich habe es damals als Trost empfunden. Kusine Bertha stand damals schon in einem Leben, das auch nicht ohne Sorgen an ihr vorüber gegangen war. Ihre Eltern hatte sie früh verloren. Hat sie gewusst, dass wir die Mutter auch früh verlieren würden? Oder hatte die Mutter sie gebeten, in dem Abendgebet einen Trost in diese Richtung mit einzubeziehen? In der Folgezeit war sie stets um uns besorgt. Sie war sehr christlich eingestellt und erfüllte mit ihrer Fürsorge für uns wahrscheinlich eine Bitte unserer Mutter.

Wie das Leben für uns weiterging, darüber ist nicht viel, aber andererseits doch eine ganze Menge zu sagen. Für mich und auch für meine Brüder war das Leben leer geworden. Gewiss war die Mutter lange krank, doch sie war noch da und der Glaube, dass sie wieder gesund werden würde, hatte uns nie verlassen. In dem uns anerzogenen christlichen Glauben begründeten wir diese Hoffnung. Jetzt, so ganz unerwartet war sie uns genommen worden. Als damals Elfjähriger bin ich in dem Glauben an Gott und vor allem an der göttlichen Allmacht stark erschüttert worden. Die Frage, warum hat er mir meine Mutter genommen, hat mich stark berührt. Diese Frage stand später stets vor mir, wenn ich die Kinder vom Nachbarn Reil beim fröhlichen Spiel sah. Für sie stellten sich diese Fragen nicht, denn sie hatten noch ihre Mutter.

Die vielen Vorbereitungen für die Beerdigung blieben uns nicht verborgen. Die Nachbarn und von diesen vor allem die Frauen, waren besonders daran beteiligt. Wir wurden davon weniger berührt. Mit unserer Bekleidung muss es wohl nicht zum Besten gestanden haben. Eine Schneiderin aus Wüsting kam. Diese hat für meinen ältesten Bruder und für mich Blusenanzüge aus schwarzem Leinenstoff genäht. Es war der Stoff von dem Leinen, den die Mutter zusammen mit der Großmutter einst gewebt hatte. Das Leinen war schwarz eingefärbt. Die Großmutter trug davon auch stets Kleider.

Schmerzlich war der Tag der Beerdigung. Der Sarg mit der darin befindlichen Mutter stand auf Ständern am oberen Rand der Diele. Drei silberfarbene Leuchter standen darauf, in denen brennende Kerzen steckten. Als Teilnehmer waren Tante Adeline und Onkel Christopher aus Moorriem, die Geschwister vom Vater, die Kusinen Bertha und Hermine Galdas sowie Nachbarn und viele Bekannte aus dem Dorf erschienen. Der noch lebende Bruder unserer Mutter, Onkel Johann, war nicht anwesend. Die weite Entfernung und der Dienst hatten ihn an derTeilnahme gehindert. Er stand zu der Zeit noch in Züllichau im Zolldienst. Als letzter Gruß traf ein Lorbeerkranz von ihm ein.

Viele Vorgänge wurden von uns ferngehalten, besonders die Ansammlung von Wagen auf dem Hof, mit denen die Trauergäste zum Friedhof nach Hude gefahren werden sollten. Wir hielten uns in einem Zimmer auf und wurden erst gerufen, als der Pastor Tiarks aus Hude erschien. Er trat an den Sarg, hielt eine Andacht, sprach ein Gebet und Worte des Trostes. Mit diesen Trostworten sprach er auch Worte des Abschieds. Dann hieß es für uns, Abschied nehmen von der lieben Mutter. Der Deckel wurde vom Sarg gehoben. Wir konnten die liebe gute Mutter noch einmal sehen. Sie lag in weißen Kissen gebettet, es sah aus, als wenn sie schlief.

Unsere Tante Adeline trat nahe an den Sarg heran, nahm die Hände der Mutter in die ihren und legte die Wange an die der Mutter. Dabei weinte sie sehr. Das war so ein tragisches Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ich gebe gerne zu, dass ich in diesem Augenblick, wo ich diese Zeilen schreibe, feuchte Augen bekomme. Ich schäme mich deswegen nicht, denn der Abschied von der Mutter war zu schwer. Nach diesem Abschied nahmen die Nachbarn den Sarg, trugen ihn zu dem bereitstehenden Wagen, der von dem Bauern Haverkamp gestellt und mit Tannengrün ausgeschmückt war. Es war kein besonderer Wagen, nein, ein schlichter Ackerwagen, nur für die Fahrt besonders hergerichtet. Auf diesem ist unsere Mutter zur letzten Ruhestätte gefahren worden.

Geleitet wurde dieser Wagen von dem Bauern Haverkamp selbst, mit dessen Frau unsere Mutter ein freundschaftliches Verhältnis unterhalten hatte. Wir Kinder haben zusammen mit unserem Vater auf diesem Wagen Platz genommen. Die übrigen Trauergäste folgten auf von Nachbarn und Bekannten bereitgestellten Wagen. In langsamer Fahrt ging es am Reiherholz entlang in Richtung Hude, wo sie auf dem Friedhof neben der alten Klosterruine ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Bevor die Nachbarn den Sarg in die Gruft hinabließen, trugen sie ihn einmal um die Kirche. Der Pastor sprach noch einige Worte des Trostes und ein Gebet. Das war der letzte Weg unserer Mutter und für uns der schwerste.

An dem folgenden Sonntag ging Vater mit uns in die Kirche. Nach dem Gottesdienst trat er mit uns an das Grab der Mutter. Ein Hügel, auf dem die Kränze lagen, zeigte uns die Ruhestätte an. Eine Weile haben wir an dieser Stätte still verweilt, dann trat der Vater mit uns still und ruhig den Heimweg an, der uns dieses Mal durch das Reiherholz führte. Vermutlich wollte er mit uns alleine sein, daher hat er wohl diesen etwas einsamen Weg gewählt.

Ein Abschnitt in meinem noch jungen Leben war abgeschlossen. Ein neuer begann für mich, für meine Brüder und auch für meinen Vater. Was dieser uns bringen würde, konnte nur mit einem Fragezeichen beantwortet werden. Das Leben musste weitergehen, es ging auch weiter, doch fortan verlief es in anderen Formen und war weniger harmonisch. Verschiedene Dinge und Veränderungen berührten uns doch sehr und führten oft zu einer Disharmonie zwischen der vom Vater angenommenen Haushälterin und uns Kindern. Im Grunde war sie gutmütig, doch nach gewissen Zeiträumen verfiel sie in einen Zustand, der für uns beängstigend war.

Zugeben will ich dabei gerne, dass es vielleicht nicht immer leicht gewesen ist, den Haushalt mit fünf Kindern zu führen. Richtig war aber auch, dass ein großer Teil der anfallenden Arbeiten auf uns übergegangen war. Dazu gehörte besonders das Melken der Kühe. Es war zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir diese Arbeiten und noch andere auszuführen hatten. Ebenso selbstverständlich war es geworden, unsere Strümpfe zu stopfen und auch neue zu stricken. Allerding waren wir vorher schon vom Vater zu diesen Arbeiten angehalten worden, doch ihr Ausmaß nahm mit der Zeit Formen an, mit denen wir einfach überfordert wurden. Die Schularbeiten wurden dadurch vernachlässigt. Für die Erledigung der Hausarbeiten für die Schule verblieb keine Zeit. Diese Überforderung hat mitunter zu Trotzreaktionen geführt, wodurch wiederum die Harmonie erheblich gestört wurde.

Zu der Zeit kam viel die Nachbarfrau, die wir nur unter dem Namen Tante Becker kannten. Sie war viel um Vater und um uns bemüht. Sie hatte noch einen Sohn, der zwei Jahre älter war als ich und noch mit uns in eine Schule ging. Eine Tochter von ihr war bei unserem Nachbarn Abel, der schon lange Witwer war, als Haushälterin. Sie hieß Mathilde. Das war ein kleiner Kreis, der uns nach dem Tode der Mutter in irgendeiner Form etwas verband.

Für unseren Vater ist es auch bestimmt schwer gewesen, sich mit dem harten Schicksal abfinden zu müssen. Über eine Lösung des vor ihm liegenden Problems hat er nie mit uns gesprochen. Allerdings schien in dieser Richtung etwas geplant zu sein, denn eines Tages erschien eine Tochter von der Tante Becker, von deren Existenz wir bis dahin nichts wussten. Sie hieß Henny Becker und war eine Schwester von Mathilde Becker, die beim Nachbarn Abel den Haushalt führte. Es schien so, dass das bei uns in ähnlicher Form verlaufen sollte. Über Weiteres wurde von uns nicht nachgedacht.

Ab dieser Zeit lebte unser Vater merklich auf. Es wurden Scherze untereinander getrieben und Besuche von den Freundinnen von Henny Becker empfangen, die uns manchmal nachdenklich stimmten. Zu diesen Freundinnen gehörte auch Mathilde Knutzen, die ich wegen ihrer schrecklichen Angst in den Wintermonaten spät abends nach Hause bringen musste. Darüber war ich weniger beglückt.

Das Leben war inzwischen in einigermaßen normale Bahnen zurückgekehrt. Für uns Kinder mehr zwangsläufig und weit entfernt von einem normalen Kinderleben. Der Verlust der Mutter war von uns noch lange nicht überwunden. Der Winter war lange vergessen. Die letzten warmen Frühlingstage zeigten den Beginn des Sommers an. Vater, mein Bruder Bernhard und ich befanden uns auf dem Weg zum Torfmoor. Wir sollten beim Torfringen helfen. Unerwartet wurden wir vom Vater mit der Frage konfrontiert, ob wir eine Mutter wiederhaben möchten. Spontan haben mein Bruder Bernhard und ich mit nein geantwortet und hinzugefügt, dass unsere Mutter doch gestorben sei und auf dem Friedhof in Hude ruhe. Ob diese Antwort dem Vater wehgetan hat? Wir wissen es nicht. Es wurde darüber nicht mehr gesprochen.

Es war uns nicht verborgen geblieben, dass sich zwischen dem Vater und der Haushälterin Henny Becker etwas anbahnte. Dass sie die Stelle einnehmen würde, wo einst unsere Mutter gestanden hatte, den Gedanken haben wir weit zurückgedrängt. Ich will keineswegs einen Vorwurf gegen diese beiden Menschen erheben, doch als Kind reagiert man in solchen Fällen empfindlicher, besonders dann, wenn der schmerzliche Verlust der richtigen Mutter noch nicht überwunden ist.

Ich würde nicht die volle Wahrheit sagen, wenn ich verschweigen würde, dass ich oft von tiefen Gemütsbewegungen ergriffen war. Ich habe dabei oft mit Gott gehadert und in der Tat angeklagt, und das stets mit der gleichen Frage: „Warum hast du mir meine Mutter genommen?“ An einem frühen Herbstabend wurde ich einmal besonders davon ergriffen. Am klaren Himmel stand der Mond. Das Mädchen von unserem Nachbarn, Martha Reil, wanderte durch die Wiesen des Bauern Haverkamp und sang mit heller Stimme: „Guter Mond du gehst so stille“.

Die Zeit meiner Schulentlassung und der Konfirmation rückte näher. Ostern im Jahre 1911 war sie da. Vater hat mich auf dem Weg zur Konfirmation begleitet. Es war Palmsonntag, sonst ein Tag wie jeder andere Sonntag im Jahr auch. Mein Bruder Bernhard war zu der Zeit schon ein Jahr bei einem Bauern in Oberhausen. Für mich näherte sich die Zeit des Abschieds von Lintel.