Johann Diedrich Wachtendorf wird am 23. Januar 1920 als erstes Kind von Hinrich Wachtendorf und Helene Wachtendorf auf dem Hof seiner Großeltern in Lintel (heute: Fred Melius) geboren. Er ist der ältere Bruder von Rosa Weißpflog, Else Jager, Hertha Wieting, Wilma Rüdebusch und Erna Helms.
In den Wochen um Johanns Geburt spitzt sich der Streit um die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs geforderte Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher zu. Die Forderung ist Teil des Anfang 1920 in Kraft getretenen Versailler Vertrages, den Deutschlands Regierung nach der Niederlage und der Abdankung von Kaiser Wilhelm II. im Juni 1919 nur unter Protest unterschrieben hat. Explizit geht es bei diesen Forderungen um Wilhelm selbst, den die Sieger als Hauptverantwortlichen für den Krieg sehen und ihn deshalb vor einem internationalen Gerichtshof anklagen wollen. Dass daraus wohl nichts wird, zeichnet sich jedoch früh ab: Die Niederlande, die Wilhelm Exil gewährt haben, lehnen die Auslieferung am 23. Januar 1920 – anderslautenden Quellen zufolge am 21. beziehungsweise am 22. Januar – endgültig ab. Eine Entscheidung, die nicht zuletzt auf die seit Jahrhunderten bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen der bis 1918 in Berlin regierenden Hohenzollern zum Königshaus der Oranier zurückgeht.
Umso stärker wächst der Druck auf Reichskanzler Gustav Bauer, an anderer Stelle Vollzug zu melden. Insgesamt umfasst die entsprechende Liste rund 900 in Deutschland lebende Personen wie die Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, Großadmiral Alfred von Tirpitz und den ehemaligen Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der sich für den deutschen Überfall auf Belgien verantworten soll. Andere führende Militärs wiederum sollen für ihren Befehl belangt werden, keine Gefangenen zu machen, oder für die Order, dem Feind beim Rückzug nichts weiter als verbrannte Erde zu hinterlassen. Auch einfachen Soldaten droht ein internationaler Prozess – wegen Plünderungen, Misshandlung von Gefangenen oder ganz allgemein wegen Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
Mit der Begründung, es gäbe in Deutschland keine rechtsstaatlichen Organe, die zur Verhaftung und Auslieferung der genannten Personen bereit wären, ringt Bauer den Siegermächten das Zugeständnis ab, die Verfahren vor einem deutschen Gericht zu eröffnen. Daraufhin beginnen im Mai 1921 die Leipziger Prozesse, die sich bis 1927 hinziehen. Am Ende kommt es jedoch im „vergessenen und verdrängten Nürnberg des Ersten Weltkriegs“ („Die Zeit“) zu lediglich elf Verurteilungen – was den damaligen französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand schon 1921 zur Einschätzung veranlasst, es handele sich bei den Verfahren um eine von „empörender Parteilichkeit“ gekennzeichnete „Komödie“. Frankreich und Belgien ziehen daraufhin ihre Zeugen aus Leipzig ab und eröffnen vor heimischen Gerichten Kriegsverbrecher-Prozesse in eigener Regie – mit Urteilen, die angesichts der Abwesenheit der Angeklagten freilich ohne jede Folge bleiben.
Der Streit um Verantwortlichkeiten und die oftmals mit unnachgiebiger Härte durchgesetzten Bestimmungen des Versailler Vertrags offenbaren die Verbitterung, die mehr als ein Jahr nach Kriegsende bei Siegern und Besiegten immer noch herrscht. Sie dürfte auch in Lintel und den umliegenden Dörfern des neu gebildeten Freistaats Oldenburg förmlich mit Händen zu greifen sein. Wie schmal der Grat ist, auf dem die Demokratie in Deutschland Anfang 1920 wandelt, zeigen im März Kapp-Putsch und Ruhr-Aufstand, die nur mit Mühe und vielen zivilen Opfern niedergeschlagen werden können. Die wirtschaftlichen Folgen des verlorenen Krieges sind darüber hinaus noch über Jahre zu spüren und erreichen ihren Höhepunkt erst mit der Hyperinflation im Herbst 1923.
Ein aufgeheiztes und schwieriges Umfeld also, in dem Johann auf dem kleinen Bauernhof seiner Großeltern Tönjes Diedrich Martin Bischoff und Anna Margarete Bischoff an der Hurreler Straße aufwächst. Vater Hinrich, bis 1918 selbst Soldat, hat dort im Februar 1919 eingeheiratet. Von der auf knapp acht Hektar betriebenen Landwirtschaft alleine kann die Familie jedoch nicht leben. Großvater Tönjes Diedrich Martin repariert und fertigt deshalb nebenbei Schuhe. Hinrich wiederum, der von einem deutlich größeren Hof in der Nachbarschaft (heute: Hans-Gerd Wefer) stammt, arbeitet bei der Reichsbahn in Hude.
Drei Jahre nach der Geburt der nächstjüngeren Schwester Rosa im April 1923 wird Johann eingeschult – ob in die Volksschule Lintel oder in die von seinem Elternhaus ähnlich weit entfernte Volksschule im Huder Klosterbezirk, lässt sich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Als er die Schule im Frühjahr 1934 verlässt, sind noch immer nicht alle Geschwister geboren – es fehlen noch Wilma und Erna, die im Januar 1936 beziehungsweise im November 1938 hinzukommen. Unabhängig davon, dass er auch danach als einziger Sohn in der Hof-Erbfolge ganz oben steht, dürfte Johann recht froh sein, als Unterhaltungsarbeiter bei der Reichsbahn wie Vater Hinrich nebenbei über eine feste Anstellung zu verfügen.
Schon kurz vor Johanns Schulentlassung und Konfirmation haben sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die politischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend geändert. Schon vor dem Tod von Reichspräsident Paul von Hindenburg im August 1934 liegt alle Macht im Staate in Händen von NSDAP-Führer Adolf Hitler. Der wiederum schert sich nicht um die im Versailler Vertrag festgeschriebenen Beschränkungen und rüstet die 1935 ins Leben gerufene Wehrmacht radikal auf. Ende 1936 stehen in Heer, Luftwaffe und Marine bereits mehr als 600.000 Soldaten unter Waffen – sechsmal so viel wie ursprünglich von den Siegermächten erlaubt.
Angesichts der Wiedereinführung der Wehrpflicht stellt sich für Johann zu seinem 18. Geburtstag lediglich die Frage, ob er dieser Pflicht regulär für zwei Jahre nachkommt oder als Freiwilliger einrückt. Er entscheidet sich für Letzteres und wird nach der am 24. April 1939 erfolgten Musterung dem Flieger-Ausbildungsregiment 42 in Stade zugeteilt. Noch bevor Johann dort wie zunächst vorgesehen im. April 1940 seinen Dienst antreten kann, beginnt am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Seinen ersten Tag in der Kaserne verbringt er deshalb schon am 10. Januar 1940 – allerdings nicht in Stade, sondern rund 150 Kilometer weiter südöstlich in Salzwedel.
Nach Grundausbildung und Besuch der Techniker-Schule wird Johann ab September 1940 zunächst für ein halbes Jahr zur Sicherung des Luftraums im neu eingerichteten Generalgouvernements Polen eingesetzt. Weitere Schulungen schließen sich an, Informationen aus der Familie zufolge ist er zudem für längere Zeit in der südpolnischen Kleinstadt Zakopane stationiert. Während eines Heimaturlaubs lernt er dann in der Gastwirtschaft „Zur Krone“ in Oberhausen seine spätere Ehefrau Hermanda Loers aus Idafehn kennen.
Johann und Hermanda heiraten am 10. Februar 1942.Wie oft Johann danach seinen im Juli 1942 geborenen Sohn Hans zu Gesicht bekommt, ist nicht überliefert. Im September 1942 wird er der 10. Luftwaffen-Felddivision in Königsberg zugeteilt, zwischen April und November 1943 ist er laut Wehrpass im „Kampf an der Ostfront, Mitte“ im Einsatz. In dieser Phase des Krieges befindet sich die Wehrmacht längst auf dem Rückzug, während die Rote Armee Kilometer für Kilometer Richtung Westen vorrückt.
Sehr wahrscheinlich im Februar 1944 verbringt Johann noch einmal einen Urlaub bei seiner Familie in Lintel. Die freudige Nachricht, dass Ehefrau Hermanda danach wieder schwanger ist, wird ihn nach der Rückkehr an die Front sicher noch erreichen. Die Geburt des zweiten, ebenfalls auf den Namen Johann getauften Sohnes im November 1944 erlebt Johann allerdings nicht mehr: Er fällt am 21. August 1944 in der Nähe der polnischen Stadt Ostrow unter heute nicht mehr rekonstruierbaren Umständen. Laut Auskunft der Deutschen Kriegsgräberfürsorge konnten seine sterblichen Überreste bislang nicht geborgen und auf einen der regionalen Soldatenfriedhöfe überführt werden.