Johann Hinrich Runge wird am 7. Juli 1844 als sechstes Kind von Dierk Runge und Gesche Margarete Runge auf dem elterlichen Hof am Dammannweg in Lintel (heute: Hartwig Kück) geboren. Er ist der jüngere Bruder von Anna Sophia Catharina Wachtendorf, Metta Margareta Lösekann, Catharina Gesina Schlötelburg, Johann Friedrich Runge und Gesche Margarete Wiechmann.
Drei Tage nach Johann Hinrichs Geburt veröffentlicht die in Paris erscheinende deutschsprachige Zeitschrift „Vorwärts“ das von Heinrich Heine verfasste sozialkritische Gedicht „Die armen Weber“. Es nimmt Bezug auf einen in der Provinz Schlesien blutig niedergeschlagenen Aufruhr von Baumwollwebern, die vier Wochen zuvor gegen ihre sich stetig verschlechternden Lebens- und Arbeitsbedingungen protestiert hatten. „Im düstern Auge keine Träne, sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland, wir weben Dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch – wir weben, wir weben!“ heißt es dort in der ersten, am Schluss in der Wiederholung noch einmal leicht variierten Strophe. Dazwischen fallen anklagende Worte gegen Gott, König und Vaterland. In den Augen vieler Leser ein unverhohlener Aufruf, das bestehende politische System zu stürzen. Ganz im Sinne von „Vorwärts“-Redakteur Karl Marx also, der Heine 1843 angesichts von Restauration, anhaltender Unterdrückung und Zensur in Deutschland ins französische Exil gefolgt war.
Mit Revolution haben jene bedauernswerten Weber, die sich am 4. Juni 1844 in den Ortschaften Peterswaldau und Langenbielau zusammenrotten und anschließend mehrere Fabrikanten-Villen zerstören, freilich wenig im Sinn. Neben der Freilassung eines tags zuvor von der Polizei wegen eines Schmähgesangs festgenommenen Kollegen fordern sie vor allem höhere Löhne. Dass ihre Lage zunehmend prekär wird, liegt an den Umwälzungen der Zeit. Mechanische Webstühle produzieren schneller und in besserer Qualität als traditionell arbeitende Handwerker, was die Preise für deren zumeist in Heimarbeit erbrachte Leistung immer weiter nach unten drückt. Das starke Bevölkerungswachstum und die dadurch stetig steigende Konkurrenz unter den Zulieferern tun ein Übriges. Ganz besonders in Schlesien, damals ein bedeutendes Zentrum der deutschen Textilindustrie.
Der Aufruhr endet wie so häufig in vergleichbaren Fällen. Eilig alarmiertes Militär rückt an und schießt, als die Situation kurzzeitig außer Kontrolle gerät, in die Menge. Zurück bleiben elf Tote und mehr als doppelt so viele Verletzte. In der juristischen Aufarbeitung werden drei Rädelsführer zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Die Mehrheit der Beteiligten kommt jedoch mit vergleichsweise milden Strafen davon. Viele Fabrikanten erhöhen zudem aus Furcht vor neuerlichen Krawallen die Löhne. Unter der Oberfläche brodelt es gleichwohl weiter – wenn auch weniger in den unteren Schichten der Gesellschaft als vielmehr im Bürgertum, das nach mehr Freiheiten und Mitbestimmung verlangt. Die latente Unzufriedenheit bricht sich schließlich im Frühjahr 1848 in der Märzrevolution Bahn. Sie endet nur ein Jahr später in einer neuerlichen Restauration.
Eine bewegte Epoche also, in der Johann Hinrich heranwächst. Im Großherzogtum Oldenburg, zu dem Lintel gehört, ist von Revolution allerdings eher wenig zu spüren. Dort sitzt Großherzog August fest im Sattel, und in den umliegenden Dörfern geht weiter alles seinen von Wind und Wetter gesteuerten Gang. Das dürfte auch für den Runge-Hof gelten, den Johann Hinrichs Vater laut der Linteler Chronik von Walter Janßen-Holldiek 1835 für 426 Reichstaler aus einem Konkurs erworben hat. Da der Besitz nur über vergleichsweise kleine Ländereien verfügt, arbeitet Dierk Runge nebenher noch als Schuhmacher.
Sehr wahrscheinlich im Frühjahr 1851 wird Johann Hinrich in die damals noch zusammen mit dem Nachbardorf Hurrel zusammen betriebene Volksschule Lintel eingeschult. Dort gehören unter anderem Diedrich Barkemeyer, Johann Hinrich Stolle und Hermann Heinrich Wübbenhorst zu seinen in etwa gleichaltrigen Mitschülern. Als Johann Hinrich 13 Jahre alt ist, stirbt Mutter Gesche Margarete. Wahrscheinlich ist zu diesem Zeitpunkt längst klar, dass er als jüngster Sohn eines Tages den Runge-Hof weiterführen soll. Der acht Jahre ältere Bruder Johann Friedrich fährt Janßen-Holldiek zufolge später zur See und kommt als Walfänger vor Grönland unter heute nicht mehr rekonstruierbaren Umständen ums Leben. Wann genau, ist ebenfalls unbekannt. Spätestens im April 1868 verlässt nach ihrer Heirat mit Johann Gerhard Wiechmann aus Hemmelsberg auch die letzte Schwester Gesche Margarete den elterlichen Hof. Zurück bleiben nur Johann Hinrich und Vater Dierk.
Im November 1869 heiratet Johann Hinrich Anna Gesine Harms aus Munderloh. Anfang September 1870, vier Monate nach dem Tod von Dierk Runge, wird Johann Hinrich durch die Geburt von Sohn Diedrich zum ersten Mal Vater. Mit Aline (Mai 1872), Gesine Mathilde (Juli 1874), Karl (November 1876), Johanne Gesine (April 1879), Gesine (Januar 1882) und Bertha (April 1884) folgen noch sechs weitere Kinder. Zwei davon (Gesine Mathilde und Karl) sterben allerdings im Frühjahr 1878 an im Kirchenbuch der Gemeinde Hude nicht näher beschriebenen Krämpfen. Auch die nächstgeborene Tochter Johanne Gesine kommt nicht über das Kleinkind-Alter hinaus, ihr Lebensweg endet drei Wochen vor der Geburt von Schwester Gesine.
Geht Johann Hinrich wie zuvor schon sein Vater noch einem Nebenerwerb nach? Walter Janßen-Holldiek bezeichnet ihn in seiner Lintel-Chronik als Musiker – womit vermutlich gemeint ist, dass er sich hin und wieder durch das Musizieren auf Hochzeiten und zu anderen Anlässen etwas Geld hinzuverdient. Gut möglich, dass er in dieser Funktion auch hin und wieder im Gasthof von Johann Hinrich Wachtendorf in Hude auf der Bühne steht, dem späteren „Haus am Bahnhof“. Jedoch nicht an jenem Abend im Februar 1887, dessen Ereignisse ihm zum Verhängnis werden sollen.
Es beginnt damit, dass Johann Hinrich an besagtem Abend einige Nachbarn aus Lintel mit Pferd und Wagen zum Bahnhof bringt. Anschließend kehrt er noch in die Gaststätte ein. Im Obergeschoss spielen Musiker zum Tanz auf, sie kennt Johann Hinrich Informationen aus der Familie zufolge persönlich. Vermutlich sind weitere Bekannte vor Ort, mit denen er einige Biere und vielleicht auch den einen oder anderen Schnaps trinkt. Als er schließlich nach Hause aufbrechen will, kommt er auf der Treppe ins Stolpern und stürzt der Überlieferung zufolge so unglücklich, dass er danach nicht mehr ansprechbar ist. Statt einen Arzt zu holen, legen andere Gäste ihn zur vermeintlichen Ausnüchterung auf ein Sofa. Dort kann am Morgen des 22. Februar 1887 nur noch sein Tod festgestellt werden.
Beerdigt ist Johann Hinrich sechs Tage nach seinem tödlichen Sturz auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.